Lesen ist mehr

Der Welttag des Buches wird in Barcelona auf besondere Weise gefeiert, warum nicht auch hierzulande?

  • Irmtraud Gutschke, Barcelona
  • Lesedauer: 5 Min.
Nicht immer nur telefonieren! Diese Rosen am Gaudí-Haus in Barcelona sollen zum Lesen anregen.
Nicht immer nur telefonieren! Diese Rosen am Gaudí-Haus in Barcelona sollen zum Lesen anregen.

Ein Tag zum Feiern und Flanieren. Auf den Straßen und Plätzen in Barcelona wird ein riesiges Volksfest zelebriert. Stände mit Büchern und Rosen, die Liebende einander an diesem 23. April ja schenken sollen. So will es die Tradition von Diada de Sant Jordi, einem Fest, das zum Inbegriff katalanischer Identität geworden ist.

Der Legende nach soll der Heilige Georg den Christen im Kampf gegen die Mauren zu Hilfe gekommen sein. Er wird ja in vielen Ländern verehrt – von England bis Georgien, von Bulgarien bis zum Vorderen Orient. Skulpturen und Gemälde zeigen ihn, wie er über einem furchterregenden Drachen die Lanze zückt. Er ist Schutzpatron der Ritter und Kriegsleute – schon unter dem russischen Zaren gab es das »Sankt-Georgs-Band«, das als Symbol unter Putin instrumentalisiert und in der Ukraine und in den baltischen Staaten verboten wurde. Doch hier soll, fern von allem Martialischen, der Liebe und dem Lesen eine sprichwörtliche Lanze gebrochen werden. Im katalanischen Dorf Montblanc, sagt die Legende, hat Sant Jordi nämlich eine schöne Prinzessin aus der Gewalt eines Ungeheuers befreit. Und als das Drachenblut die Erde berührte, wuchs ein Rosenstrauch.

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Schon seit dem 15. Jahrhundert gibt es in Katalonien am 23. April dieses Rosenfest, dem Blumenverkäufer, wie es heißt, derzeit 40 Prozent ihres Jahresumsatzes verdanken. Da wollen Buchhändler gerne mithalten. Welch ein Glück für sie und alle Literaturbegeisterten, dass gleichzeitig mit Sant Jordi der Welttag des Buches der Unesco gefeiert wird, dessen Datum sich auf den Todestag von Cervantes und Shakespeare bezieht.

Schon am Tag vor dem Fest kann man in Barcelonas malerischer Altstadt die Vorbereitungen beobachten. Händler stellen auf den Ramblas ihre Stände auf. Gebäude wie das von dem katalanischen Modernisten Antoni Gaudí entworfene »Casa Batlló« (Das Haus des Genies) am Prachtboulevard Passeig de Gràcia werden mit Blumen geschmückt. Für Sant Jordi und den Welttag des Buches nehmen sich viele Katalanen von der Arbeit frei. Wie schön wäre es, wenn das auch die Leute hierzulande für einen Tag des Buches tun würden. Aber würden sie die Zeit wirklich zum Bücherkauf und zum Lesen nutzen? Würden sie vielleicht lieber ausschlafen oder vor dem Fernseher sitzen, so ausgelaugt wie viele sind? Wenigstens ins Freie gehen, frische Luft schnappen. Bücher und Rosen? Eine Biermeile wäre manchen bestimmt lieber.

Laut »Börsenblatt« gaben 36 Prozent der volljährigen Deutschen 2023 an, wenigstens einmal pro Woche ein Buch zu lesen. Das sei ein Prozentpunkt mehr als 2013. Die deutlichsten Zuwächse (von 28 auf 78 Prozent) gab es indes bei »Handy spielen, surfen, chatten« und »Internet nutzen« (von 55 auf 97 Prozent). Das Fernsehen, 2013 mit 96 Prozent die stärkste Kategorie, »verlor um 12 Prozentpunkte«. Gaben 2013 noch 74 Prozent an, wenigstens einmal pro Woche zu einer Zeitung zu greifen, taten das jetzt nur noch 42 Prozent der Deutschen.

Es würde mich wundern, wenn es diesen Trend nicht auch in Katalonien gäbe. Ein möglichst großes Leserpublikum wünschen sich alle am Buchmarkt Beteiligten – auch bei »Ona Llibres«, einer der größten Buchhandlungen in Barcelona. Modern und zugleich mit Sinn fürs Traditionelle, wurde hier ein wohltuendes literarisches Ambiente geschaffen. Aber wie kann es gelingen, damit möglichst viele Menschen zu erreichen?

Als ich 2019 in einer Schule in Tatarstan war (819 Kilometer östlich von Moskau), faszinierte mich ein Transparent: »Lesen bringt Ansehen«. In Deutschland wäre das ins Leere gesprochen. »Ansehen« kann man gewinnen, auch ohne literarisch gebildet zu sein. Sowieso wird »Bildung« stärker den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts untergeordnet. Von der Kulturtechnik Lesen wird nur gebraucht, was für die entsprechenden Aufgaben zweckmäßig erscheint.

Aber Lesen ist mehr: über das Zweckmäßige hinausdenken, Gegebenes infrage stellen (auch sich selbst), die Fantasie ins Unendliche schweifen lassen, anderes als nur die eigene Wirklichkeit kennen und schätzen lernen. »Ein weiser Händler« sei einer, der aus fremden Ländern Waren in seine Heimat bringt, schrieb der katalanische Philosoph Ramon Llul (1235–1316), nach dem in Barcelona ein Kulturzentrum benannt ist, »ein noch weiserer Händler wärest du, mein Sohn, wenn du in fremde Länder zögest und von dort die besten Gewohnheiten mitbrächtest, die du finden kannst«.

Ja, wenn man den Welttag des Buches doch in Berlin so feiern könnte wie in Barcelona! Freilich, Buchhandlungen, Verlage, Bibliotheken, Schulen lassen sich einiges einfallen aus diesem Anlass. An rund eine Million Schulkinder wird zum Beispiel das Buch »Ich schenk dir eine Geschichte« verteilt. Das ist zu würdigen, doch wünschte ich mir mehr: ein großes Volksfest, das den Wert des Buches preist als gesamtgesellschaftliche Angelegenheit.

Wenn das Lesen auch als private Freizeitbeschäftigung erscheint, ist es doch viel mehr als das: Bildung in einem umfassenden Sinne als Voraussetzung funktionierender Demokratie. Zumal viele Menschen sich als »abgehängt« empfinden müssen, ist die sozioökonomische Krise, in der wir uns befinden, auch eine soziokulturelle, um mit dem Soziologen Andreas Reckwitz zu sprechen, dessen Buch »Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne« ich jedem ans Herz legen möchte.

Das große Fest zum Welttag des Buches – »Leipzig liest« anlässlich der Buchmesse könnte hierfür ein Vorbild sein – müsste natürlich auch Raum für politische Diskussionen bieten, ebenso wie für Lyrik, Prosa und Musik. Die Botschaft: Es lebt sich gut in einem Leseland. Bücher und Blumen, sogar eine Biermeile – von vielen Eindrücken belebt und bestärkt, werden manche vielleicht, endlich mal, zum Lesen verführt. Und wer Lektüre ohnehin zum Leben braucht, wird umso mehr inspiriert.

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