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Martin Crimp gastiert an der Berliner Schaubühne und fragt nach der Kunstproduktion in Zeiten Künstlicher Intelligenz

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 4 Min.
Braucht es noch die alte Dichterstube, wenn die Einsen und Nullen regieren?
Braucht es noch die alte Dichterstube, wenn die Einsen und Nullen regieren?

Jahre bevor die Firma Open AI mit ihrem Programm ChatGPT Furore machte, lieferte eine minimalistische Website das eindrücklichste Beispiel für die Wirkmacht Künstlicher Intelligenz. Freunde und Kollegen verschickten den Link, neue Bekannte zückten auf Partys ihre Smartphones, um die Seite zu präsentieren. Wer auf jemanden traf, der sie noch nicht kannte, konnte sich des Interesses seines Gegenübers sicher sein. Was nicht daran lag, dass es auf ihr Spektakuläres zu entdecken gab. Eher im Gegenteil, ist auf ihr doch bis heute nur das Bild eines Gesichts zu sehen. Und lädt der Nutzer die Seite neu, sieht man ein anderes. Das ist alles.

Erstaunlich und irritierend an »thispersondoesnotexist.com« ist, dass all die Menschen auf den Bildern nie gelebt haben. Ein Programm, trainiert mit riesigen Mengen von Porträts, generiert im Hintergrund ganz neue Gesichter.

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Inzwischen gibt es diese automatische Bildgenerierung für alles Mögliche: Inneneinrichtungen, Comicfiguren, Keramik, Satellitenbilder von Städten, Stühle, Autos und Sneakers. Die Fake-Personen bewahren gleichwohl bis heute ihre Faszination, was mit einer Besonderheit des Mediums Fotografie zu tun hat. Beim Betrachten eines Porträts verwechseln wir das Bild mit dem Menschen. Niemand sagt: Das ist ein Foto von Thomas. Man ist sich stattdessen sicher: Das ist Thomas! Das Bild ist also identisch mit dem, was es zeigt. Der französische Philosoph Roland Barthes beschrieb die Fotografie entsprechend nicht als Technik, sondern als Magie.

Und dieser Tage trifft nun also der unerschütterliche Glaube an die Wahrheit der Fotografie auf die grenzenlose Machbarkeit des Fakes. Ein künstlerisch äußerst interessantes Spielfeld tut sich hier für den kanadischen Regisseur Christian Lapointe und den englischen Dramatiker Martin Crimp auf. Crimp gehört seit den 1990er Jahren zu den erfolgreichsten Gegenwartsdramatikern in Großbritannien und ist auch in Deutschland gut bekannt. Im Rahmen des Festivals Internationale Neue Dramatik an der Berliner Schaubühne steht er nun in der Produktion »Not One of These People« selbst auf der Bühne.

Neben ihm sind wechselnde Projektionen künstlich generierter Gesichter zu sehen. Er legt ihnen Sätze in den Mund, liest vor, was diese 299 Nicht-Menschen denken, wo sie politisch stehen, woran sie glauben, was sie hoffen, bereuen, wie es zu ihrer Kündigung kam, was damals geschah, als die alte Nachbarin starb. Bis auf wenige Ausnahmen ergeben sich keine Querverbindungen aus diesen Statements. Crimp lässt sie jeweils zu einem neu gewählten Thema sprechen.

Manche Aussagen sind ziemlich witzig, andere könnten betroffen machen, wenn die Stimmen die der Menschen selbst wären. So aber wirken diese Gesichter eher weiter in die Ferne gerückt und das auch dann noch, als ihre Mundwinkel zu zucken beginnen und sie bald schließlich lippensynchron zu Crimps Vortrag ihre Geschichten selbst zu erzählen scheinen. Je aufwendiger und komplexer die Animation also ausfällt, umso fremder und lebloser wirken sie. Sie ähneln mehr Puppen als Menschen oder vielleicht auch schlechten Darstellern, solchen, die eine Figur nie ausfüllen, weil es ihnen an dem Können fehlt, ihre eigene Persönlichkeit zu verbergen.

Am Ende des 100-minütigen Abends betritt Crimp dann eine naturalistisch eingerichtete Wohnung. Kleiderständer, Schreibtisch, Bücherregal. Er wässert die Zimmerpflanze, setzt sich an den Tisch, schreibt etwas auf oder zeichnet, genau ist es nicht zu sehen. Dann zerknüllt er das Blatt, nimmt ein neues auf, druckt schließlich etwas aus.

Wir beobachten hier den Schriftsteller bei der Arbeit, beim Schreiben der zuvor gehörten Texte. Lapointe und Crimp interessieren sich offenbar deutlich stärker für den Produktionsprozess von Literatur und Theater als für die Phänomenologie künstlich erzeugter Bilder. Sie reflektieren den Prozess des Erfindens und die Beziehungen zwischen Figur, Darsteller und Autor. Die viel interessanteren Fragen, auf die einen die künstlich erzeugten Bilder stoßen, solche nach einer Definition von Wahrheit, nach den Eigenschaften eines Abbilds oder den Mindestanforderungen für die Bezeichnung Mensch, lassen sie dafür links liegen. Das ist bedauerlich, bei dieser Versuchsanordnung wäre mehr drin.

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