Dokfilmwoche Hamburg: Über revolutionäre Geduld

Die diesjährige Dokfilmwoche Hamburg zeigte, dass aller Widerstand eine Geschichte hat und dass es sich lohnt, sich mit ihr zu befassen

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 5 Min.
Blick aus der maschinellen Zukunft auf unsere menschliche Gegenwart: »Notes from Eremocene«
Blick aus der maschinellen Zukunft auf unsere menschliche Gegenwart: »Notes from Eremocene«

Jedes Jahr, das der Kapitalismus werden lässt, stellt die Dokfilmwoche Hamburg die richtigen Fragen zur Zeit. Folglich ging es in der am Sonntag zu Ende gegangenen 21. Ausgabe unter anderem um die sogenannte Künstliche Intelligenz (KI). Viera Čákanyovás Science-Fiction-Doku »Notes from Eremocene« wirft einen Blick aus der maschinellen Zukunft auf unsere menschliche Gegenwart. Das »Eremozän« des Titels ist die Epoche der Einsamkeit: Homo sapiens ist, nach dem Untergang der anderen Lebewesen, allein auf der Erde, aber befindet sich bereits in der Hand einer überlegenen, unsterblichen KI. Doch sein Blick zurück auf das, was ihm natürlich und spontan schien, erweist, dass es – ob es sich um Weihnachtsfeiern, Strandvergnügen oder Jagden handelt – längst verdinglicht und entleert war.

Auch die Filmemacher Ekiem Barbier, Guilhem Causse und Quentin L’helgoualc’h haben sich mit »Knit’s Island« in den Totenschädel der KI gewagt. Das Eiland, von dem im Titel ihres Films die Rede ist, ist die virtuelle Landschaft des Computerspiels »DayZ«. Wir wandern durch eine Art Tschernobyl nach dem Super-Gau. Wie in Philip K. Dicks Roman »Dr. Bloodmoney« bildet sich nach der Katastrophe eine neue Gesellschaft, die hier aus den Avataren der über die ganze Welt verstreut lebenden Spielerinnen und Spieler besteht: Irre, die »Spaß am Morden« haben, Neureligiöse, die einem Wolfsgott dienen, aber auch friedliche Hippies, die die Filmemacher zum Besuch einladen, solange sie keine Tiere schießen. »We only shoot a movie«, lautet die schlagfertige Antwort des Teams.

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Das Unheimliche an solchen dystopischen Szenarien ist, dass sie uns fatal an dasjenige erinnern, in dem zu leben wir verdammt sind. Ob Olena Newkryta in ihrer ebenso strengen wie traumförmigen Etüde »Patterns Against Workers« die Automatisierung der Arbeitswelt reflektiert oder Claire Simon in »Notre corps« (Unser Körper) den Alltag in einer gynäkologischen Klinik beobachtet, befinden wir uns hier wie da in einem Maschinenpark und haben das peinliche Empfinden, noch nicht ganz Maschine geworden zu sein.

Wenn die Maschinisierung des Menschlichen das eine große Thema unserer Gegenwart ist, ist das andere, wohl noch größere, die Migration. Zwei Aspekte prägen die Beiträge zum Thema: Widerstand und Geschichte – insbesondere die Geschichte des Widerstands. Auf assoziative, zirkuläre, ja hypnotische Weise verbindet Raphaël Grisey in »Xaraasi Xanne – Crossing Voices« beide Aspekte miteinander. Er greift auf das Bildarchiv des kürzlich verstorbenen Aktivisten Bouba Touré zurück und ergänzt es mit spektakulären Funden aus französischen Bild- und Videosammlungen. Touré begleitete die Einwanderer- und Sans-Papiers-Bewegung schon seit den 60ern, war ein getreulicher Chronist ihres Widerstands und ging 1977 nach Mali, um dort eine landwirtschaftliche Kooperative zu begründen – als autonomes, nicht als von dem ehemaligen Kolonialstaat subventioniertes Projekt. Unentwegt wiederholt Touré seine Formel: »Das Leben ist Kampf, das Leben ist Kampf …«

Eng verbunden mit dem Großthema Migration ist der Rassismus, der sogar Menschen betrifft, die vor vielen Generationen eingewandert sind. Man denke nur an den in ganz Europa verwurzelten Antiziganismus. Nachdem in den letzten Jahren in Hamburg Peter Nestlers und Rainer Komers’ Pionierfilme zur Situation und zur Kunst der Sinti und Roma zu sehen waren, eröffnete das Festival in diesem Jahr mit Karin Bergers halbstündigem Porträt von Karl Stojka. Berger hat sich bereits sehr verdient gemacht um eine der großen Künstlerinnen unserer Zeit, Ceija Stojka, Karls Schwester. Von Karls Kunst ist in Bergers jüngstem Film »Wankostättn« zwar nicht viel zu sehen, dafür erzählt er vom einstigen Stellplatz der Sinti und Roma in Wien (eben der Wankostättn), vom Todesmarsch der KZ-Häftlinge und von einer Rache an SS-Schergen. Stojkas Charisma, die elegante Choreografie von Protagonist und Kamera und die durchdachte Montage machen diesen Film zum einzigartigen Meisterinnenwerk.

Erstaunlich war die enorme Medienvielfalt, die auf dem Festival geboten wurde. Nicht nur die erwähnte Science-Fiction von Čákanyová, auch Ann Carolin Renningers naturphilosophisches Capriccio »Der Wind nimmt die mit« verwendet Super-8- und 16-mm-Material, dagegen stützt sich Faraz Fesharaki für sein poetisches Familienporträt »Was hast du gestern geträumt, Parajanov?« fast durchweg auf verschwommene Bilder aus Videokonferenzen. Martin Paret erzählt in »Operation Namibia« eine tragisch gescheiterte Anti-Apartheid-Aktion als bebilderten Briefroman und Franzis Kabisch hatte den glänzenden Einfall, ihren Film »getty abortions« aus den Stock- oder Symbolfotos zu entwickeln, mit denen Zeitschriften ihre Artikel über Abtreibung illustrieren.

Dass die Dokfilmwoche in diesem Jahr Hörfunkfeatures präsentierte, ist da nicht so abwegig, wie es klingen mag. Immerhin ist eines der größten Werke des europäischen Kinos, »Branca de Neve« (Schneewittchen; 2000) von João César Monteiro, mehr oder weniger ein Hörspiel. Und schon die Lettristen wussten, dass Kino nicht nur als Vorführ-, sondern auch, ja vor allem als Versammlungs- und Diskussionsort dienen kann. Warum sich also nicht im Kino gemeinsam etwas anhören und darüber sprechen? Auch hier wurde historisch ein Riesenbogen geschlagen. Denn was für ein Unterschied zwischen Klaus Wildenhahns »Da wo die Kamine qualmen, da musst du später hin« (1978) und dem gerade urgesendeten »Fifty Shades of Meryem« von Leon Daniel und Yannick Kaftan! Das erste Feature ist ein lineares, zwar parteiliches, aber trockenes Porträt von Gewöhnlichen, nämlich Arbeitern, das zweite das Mosaik einer Ungewöhnlichen, nämlich der Schauspielerin Meryem Öz. Immer subjektiver und feinkörniger ist das Feature über die Jahrzehnte geworden, aber verliert, wenn es gut geht, den großen Zusammenhang nicht aus den Augen.

Dass der politische Aktivismus nur davon profitieren kann, seine eigene Geschichte zu kennen, war ein Grundgedanke des Festivals. Klassische Filme über Spanienkämpfer wie »Unversöhnliche Erinnerungen« (1979) oder »Die Cousins« (1988) erinnern daran, dass auch die deutsche Linke einmal proletarisch war. Und Re Karens restauriertes Porträt der Liedermacherin Fasia Jansen (»Von trutzigen Frauen und einer Troubadora«; 1987) führt vor Augen, dass vieles, das einst gedanklich und organisatorisch erreicht war, inzwischen verloren gegangen ist – ich nenne nur den Antimilitarismus.

Zu früh ergibt sich die Linke der Macht. Auch darum sagt eine nigerianische Aktivistin in »Coconut Head Generation« von Alain Kassanda, Regel Nummer eins des Widerstands sei Geduld. Es ist die Erfahrung, die der palästinensische Aktivist Basel Adra seinem israelischen Mitkämpfer Yuval Abraham in »No Other Land« vermittelt: Manche Kämpfe ziehen sich über viele Jahrzehnte. Es ist nicht gesagt, dass sie eines Tages belohnt werden, aber wer sie aufgibt, gibt sich selbst auf.

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