• Kultur
  • 9. Mai 1945: Tag des Sieges

Nicht mit gleicher Münze heimgezahlt

Sergej Tulpanow, Kulturoffizier im besiegten und befreiten Deutschland – eine Biografie von Inge und Michael Pardon

  • Bettina Richter
  • Lesedauer: 5 Min.
Der sowjetische Kulturoffzier Sergej Tulpanow mit der Schriftstellerin Anna Seghers, Pfingsten 1947.
Der sowjetische Kulturoffzier Sergej Tulpanow mit der Schriftstellerin Anna Seghers, Pfingsten 1947.

Bekannt dürfte das Bonmot von den Beulen an den Helmen der Genossen sein, darunter einige, so die Pointe, vom Klassenfeind. Daran fühlte ich mich erinnert, als ich jetzt die Biografie Tulpanows las, die nun – vor Jahren schon angekündigt – endlich gedruckt vorliegt. Der einstige Kulturoffizier der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) Sergej Iwanowitsch Tulpanow war Militär und Wirtschaftswissenschaftler. Er versuchte Brücken der Verständigung zu bauen zwischen Russen und Deutschen, die sich vier Jahre lang bekriegt hatten. Tulpanow demonstrierte überzeugend, dass dies möglich ist. Insofern kommt das Buch von Inge und Michael Pardon zur rechten Zeit, auch wenn klar ist, dass der hierzulande galoppierende Russenhass damit kaum einzudämmen sein dürfte. 

Tulpanow gehörte zu den Verteidigern des belagerten Leningrad, dann holte ihn Marschall Georgi Schukow an die Stalingrader Front. Als Oberst kämpfte sich Tulpanow durch die Ukraine und die Karpaten, am 8. Mai 1945 stand seine Einheit vor Prag. Ein Vierteljahr später übernahm er im Auftrag von Schukow die Informationsverwaltung der SMAD (die ursprünglich Propagandaverwaltung geheißen hatte).

Diese Abteilung sollte zum einen bei der Neuorganisation des Lebens in Deutschland helfen, zum Weiteren ein anderes Bild von den Russen vermitteln, als es die Nazis jahrelang gezeichnet hatten. Das Zerrbild von den vermeintlich slawischen Untermenschen und anderen »nichtarischen« Völkern war schließlich die Voraussetzung dafür gewesen, dass gegen sie hatte Krieg geführt werden können. Und als dieser Vernichtungs- und Eroberungskrieg mit der bedingungslosen Kapitulation zu Ende gegangen war, fürchteten die Besiegten – von denen sich die wenigsten als von der Naziherrschaft befreit fühlten – die Rache der Sieger, insbesondere der Russen. Man wusste schließlich, was man ihnen angetan hatte. Schukow soll damals gesagt haben: »Wir haben die Deutschen vom Faschismus befreit, das werden sie uns nie verzeihen.«

Die Botschaft von Tulpanow und seinen Mitstreitern lautete jedoch: Wir werden euch nicht aushungern und durch Arbeit vernichten, wie ihr es mit uns getan habt. Wir werden eure Dörfer und Städte nicht systematisch zerstören, wie ihr es mit unseren getan habt, nicht eure Felder verwüsten und die Scheunen niederbrennen. Wir werden euch nicht ins Gas schicken und in Lager stecken, wie ihr es getan habt. Wir werden eure Soldaten nicht Hungers sterben lassen wie ihr es mit russischen Kriegsgefangenen getan habt. Wir werden euch die Kulturlosigkeit, mit der ihr uns gegenübergetreten seid, nicht mit gleicher Münze heimzahlen, sondern mit Kultur begegnen

Unter den eine Million Blockade-Hungertoten von Leningrad war auch Tulpanows fünfjährige Tochter Dolores. In Stalingrad hatte ihm ein Granatsplitter den Rücken aufgerissen und ein anderes deutsches Mordinstrument die rechte Hand verkrüppelt. Und die nun reichte er den Deutschen. Zur Verständigung und zur Versöhnung.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Es gab kaum eine russische Familie, die von der Unmenschlichkeit des deutschen Terrorstaates nicht betroffen war. Jeder Sowjetsoldat hätte genügend Gründe gehabt, sich für die Grausamkeiten zu rächen, die seinem Volk zugefügt worden waren. Es gab einige, gewiss, die dies auch taten. Aber sie wurden nicht nur zur Ordnung gerufen, die Konsequenzen für Übergriffe waren mitunter nicht weniger brutal als der Krieg. 

Sowjetische Kulturoffiziere wie Tulpanow (»ein gütiges russisches Herz«, Boleslaw Barlog) waren oft sensibler und empathischer als ihre Führung. Im Mai 1947 hielt der Deutsche Kulturbund, an dessen Wiege Tulpanow gestanden hatte, seine 1. Bundeskonferenz ab. Der Präsident Johannes R. Becher, aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrt, hielt eine Rede, die anschließend in einer 80-seitigen Broschüre veröffentlicht wurde. Die wurde beschlagnahmt. Es handele sich um ein Bekenntnis zum Nationalismus, lautete der Vorwurf von oben. Bechers Rede war betitelt mit »Wir, Volk der Deutschen«. Tulpanow hatte Mühe zu erklären, dass das Nationalgefühl eines Johannes R. Becher und anderer deutscher Antifaschisten nichts mit dem Nationalismus der Bourgeoisie zu tun hatte.

Der sowjetische Offizier engagierte sich auch für die Freilassung von Gustaf Gründgens, der vom NKWD abgeholt wurde, weil er Generalintendant des Preußischen Staatstheaters gewesen war. Der Schauspieler war zwar den Schmeicheleien der Nazis erlegen, aber er hatte eben auch kommunistischen Kollegen wie etwa Ernst Busch das Leben gerettet. Tulpanow intervenierte. Gründgens kam frei und arbeitete wieder am Deutschen Theater als Schauspieler und Regisseur.

Oder Ende Juli 1946: Bevor der Leichnam Gerhart Hauptmanns nach Hiddensee überführt wurde, irritierte Tulpanow mit seiner Traueransprache in Stralsund seine Vorgesetzten. Er warnte davor, bei Denazifizierung und Demokratisierung das Kind mit dem Bade auszuschütten: Der Literaturnobelpreisträger Hauptmann, Autor der »Weber«, gehöre »zum künstlerischen Reichtum aller Völker und damit auch dem fortschrittlichen Teile des deutschen Volkes«.

Tulpanow kannte sich aus mit der Psyche der Deutschen, nicht aber mit Intrigen in den eigenen Reihen. Der kultivierte Oberst hatte neben seiner SMAD-Funktion auch noch eine in der Partei – er war der Sekretär aller KPdSU-Mitglieder in den Besatzungstruppen. Sein souveränes Denken und selbstbewusstes Handeln waren nicht wenigen Parteihäuptlingen in Moskau suspekt. Wiederholt schickten sie ihm Kontrollkommissionen auf den Hals; seit 1946 gab es Forderungen nach seiner Ablösung unter abstrusen Vorwürfen und konstruierten Anschuldigungen.

Im Sommer 1949 setzte man Tulpanow erst unter Hausarrest und dann tatsächlich ab. Der für Kaderpolitik zuständige ZK-Sekretär Kusnezow (der 1950 selbst erschossen werden sollte) begründete Tulpanows Abberufung mit dessen Selbstständigkeit. Er entscheide »über die Maßen kühn« über allgemeine politische Fragen wie »ein Führer«, was ihm nicht zustehe. (Im Hintergrund spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass Tulpanows Mutter 1940 als angebliche »Spionin« hingerichtet worden und sein Vater in Kasachstan im Lager verstorben war.)

Tulpanow kehrte in die Wissenschaft zurück. Man ließ ihn lange nicht in die DDR reisen. Und als Erich Honecker 1971 vorschlug, ihn zu dessen 70. mit dem Karl-Marx-Orden zu ehren, kam Order aus Moskau, die DDR möge doch zunächst verdienstvolle Politiker aus der Führung der Sowjetunion bedenken. Allerdings blieb die hohe Wertschätzung unter vielen namenlosen Ostdeutschen für diesen intelligenten Brückenbauer ungebrochen. Nicht wenige pflichteten Professor Viktor Semjonowitsch Torkanowski, seinem akademischen Freund, bei: »Hätte ein solch kluger, integrer Mann wie Tulpanow an der Spitze des Sowjetstaates gestanden, wären unsere eigene und die Weltgeschichte anders verlaufen.«

Inge und Michael Pardon: Tulpanow. Stalins Macher und Widersacher. Mit einem Vorwort von Moritz Mebel. Edition Ost, 256 S., geb., 28 €.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.