Warum Ideologiekritik?

In den Gesellschaftsanalysen der vergangenen Jahre taucht der Begriff der Ideologie kaum auf. Woran liegt das?

Herumstehen in Gruppen: So stellt sich (marxistische) Theoriebildung manchmal dar.
Herumstehen in Gruppen: So stellt sich (marxistische) Theoriebildung manchmal dar.

Wie lassen sich die Zustimmungswerte für die AfD erklären, obwohl deren Programm den Interessen der Mehrheit ihrer Wählerschaft widerspricht? Warum sind Verschwörungstheorien und Desinformation so virulent und anscheinend gegen jeden Faktencheck immun? Warum wird nichts gegen den Klimawandel unternommen, obwohl die Sachlage so eindeutig ist? Die Problemlagen der vergangenen Jahre wären geradezu prädestiniert für einen Begriff, der in den Analysen der gesellschaftlichen Regression paradoxerweise vollkommen auf der Strecke blieb: Ideologie.

Wir sind es gewohnt, Ideologie nur noch als Kampfbegriff gegen eine »woke« oder »grüne« Weltanschauung zu verstehen, also konkret politisch grundiert. Aber auf den analytischen Gehalt des berühmt-berüchtigten »notwendig falschen Bewusstseins« wird kaum mehr Bezug genommen. Dabei diente der Begriff einmal der Erkenntnis über jene Denk- und Handlungsweisen – so kritisch sich diese auch selbst vorkamen –, die letzten Endes zur Stabilisierung der Verhältnisse beitragen, aus denen sie hervorgehen. Das konformistische Rebellentum des libertären Autoritarismus, die selbstgerechte Realitätsverweigerung der Querdenker, der politische Machterhalt durch Desinformation und Populismus ebenso wie ein Positivismus unter dem Motto »Trust the Science«: Ergeben diese mitunter kuriosen Gedankengebäude nicht erst dann einen Sinn, wenn wir sie als organische Abfallprodukte der gesellschaftlichen Verhältnisse begreifen können?

Ein knappes Jahrhundert gehörte der Begriff der Ideologie (nicht nur) zur marxistischen Reflexion über den Zusammenhang von Gedanken- und Gesellschaftsform. Dann fiel er weitgehend in Ungnade. Haben sich damit die Prophezeiungen der 90er Jahre bewahrheitet, dass die bürgerliche Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in ein postideologisches Zeitalter übergehen würde? Plausibler als diese – selbst hochgradig ideologieverdächtige – Behauptung vom »Ende der Geschichte« scheint zu sein, dass der Begriff der Ideologie dermaßen grundlegende Probleme einer kritischen Theorie der Gesellschaft aufzeigt, dass man ihn lieber ganz fallen ließ.

Ein Wahrheitsproblem

Das offensichtlichste Problem, das der Ideologiebegriff hat, ist ein Wahrheitsproblem. Denn, so der hartnäckige Einwand hier, wer von einem falschen Bewusstsein spreche, müsse folglich auch von einem richtigen ausgehen. Auf diese Logik reagierte die marxistische Theorie mit Selbstrelativierung: Das Lenin’sche »Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist« wurde abgelöst von einem undogmatischen, offenen Marxismus, der vor lauter Bescheidenheit keine letzte Wahrheit für sich beanspruchen wollte.

Dabei hat die Behauptung von Wahrheit in der bürgerlichen Gesellschaft einen schweren Stand. Der ureigene Kritikimpuls der Aufklärung war ein relativistischer, der sich gegen falsche Dogmen von Kirche und weltlicher Autorität wandte, und auch Marx begann sein Werk mit der Religionskritik. Aber wie Max Horkheimer die sich daraus entwickelnde instrumentelle Rationalität kommentierte: »Freiheit von der Herrschaft dogmatischer Autorität« gehe mit der »Haltung der Neutralität gegenüber einem jeden geistigen Inhalt« einher. Mit bloßem Relativismus sei es »auch unmöglich zu sagen, daß ein ökonomisches oder politisches System, wie grausam und despotisch es auch sei, weniger vernünftig ist als ein anderes«.

Dieses moderne Dilemma aus Relativierung und Objektivität bestimmte die theoretische Entwicklung des Ideologiebegriffs nachhaltig. Als die Kritische Theorie sich in der Krise des Marxismus des Konzeptes annahm, sah sie sich etwa der Wissenssoziologie Karl Mannheims gegenüber, der letztlich jeden gedanklichen Zusammenhang als Ideologie verstanden wissen wollte. Im Nachkriegsfrankreich bemühte sich Louis Althusser um eine Erweiterung des Marxismus zur Staatstheorie und stellte zum Ende der 60er Jahre das Konzept der Ideologie in den Mittelpunkt der staatlichen Maschine zur Reproduktion der Produktionsverhältnisse.

Allerdings ging daraus eine Theorieentwicklung seiner Schüler hervor, die Ideologie wahlweise als unbrauchbar (Michel Foucault) oder als Beschreibung eines jeden Zeichensystems (Jacques Derrida) erklärten – was schließlich ebenfalls zu dem Kurzschluss führte, dass Ideologie nur alles oder nichts sein könne. Der Postmarxismus Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes verallgemeinerte Ideologie im theoretischen Programm einer »Dekonstruktion des Marxismus« ebenfalls vom Spezialfall zum Grundsatzmodell der Bewusstseinsbildung. Und die poststrukturalistische Theorie schließlich kam mit dem besagten »Ende der Geschichte« auf die Idee, dass sich der Begriff der Ideologie überhaupt nur so retten ließ: als die allgemeine Konstruktionslogik des Sozialen.

Ein Determinationsproblem

Wenn aber alles Ideologie ist, so braucht es streng genommen den Begriff erst gar nicht, jedenfalls nicht für einen kritischen Anspruch. Einer solchen abstrakten Verabschiedung ließe sich aber mit einem materialistischen Grundsatz entgegnen: Die Wahrheit, die hier zum philosophischen Rätsel wird, meint gesellschaftliche Objektivität, also den wirklichen Zustand der Verhältnisse. Der Zusatz »notwendig« verweist auf diesen Umstand, dass die Falschheit des Denkens eine objektive Ursache hat. Daraus wiederum ergibt sich direkt das Folgeproblem, wie das Verhältnis des Denkens zur Gesellschaft aussehen soll. Verstehen wir »notwendig« im Sinne von »zwingend«, so legt die Gesellschaft Form und Inhalt des Denkens fest. Zu Recht wurde diese Vorstellung als schlechter Determinismus zurückgewiesen.

Sinnvoller ist es hingegen, »notwendig« im Sinne einer Funktion zu deuten: Die gesellschaftlichen Verhältnisse brauchen zu ihrem Fortbestand ein Denken, das sie nicht richtig erfassen kann. Althusser wies in seiner berühmten Ideologiedefinition darauf hin, dass die Reproduktion der Produktionsverhältnisse auch über ein Bewusstsein vermittelt ist, welches das Ganze notwendig falsch erkennt: Indem es »beweist, dass es so sein muss, damit die Dinge so sind, wie sie zu sein haben«. Als Beispiel aus der Religion – gewissermaßen der Urform der Ideologie – nennt Althusser die Formel »Amen«.

Neben der Religion ist ein klassisches Beispiel für solch ein Denken jenes der Natürlichkeit. Wo in der modernen Gesellschaft »natürlich« als Rechtfertigung auftaucht, steckt eigentlich immer Ideologie drin. Natürlichkeit ist eine retrospektive Naturalisierung, sprich Verdinglichung menschengemachter Verhältnisse. Aus diesem Umstand zog Marx ausdrücklich die Konsequenz in seinen programmatischen Feuerbachthesen: »Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis.«

Ein Denken, das diese rationelle Lösung nicht findet, geht in Ideologie über – so auch das Feuerbachs. Denn er hatte zwar kritisch erkannt, dass sich die Welt im Bewusstsein der Menschen gewissermaßen verdoppele und das Denken daher wieder auf seine Weltlichkeit zurückgeführt werden müsse. Was Feuerbach Marx zufolge aber nicht in Rechnung stellte, war, dass die Tatsache, »dass die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert«, selbst ein gesellschaftliches Faktum darstellt, das »nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sich-selbst-Widersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären« ist. Folglich reicht es nicht, abstrakt die Entfremdung von Denken und Welt zu behaupten. Das eigene Denken muss sich selbst als Teil dieser Zerrissenheit erklären können, sonst bleibt es unbewusstes Produkt dieser Verhältnisse, ergo Ideologie.

Ein Totalitätsproblem

Die Abwesenheit des Ideologiebegriffs lässt sich daher ebenso wenig mit der oft beklagten Vieldeutigkeit des Konzepts zwischen Analyse und Kampfbegriff erklären wie mit den philosophischen Schwierigkeiten eines Wahrheitskonzepts. Die Beliebigkeit des Ideologieverständnisses ist vielmehr selbst ein zu erklärendes Phänomen, sie deutet auf das eigentliche Problem hin: Eine sinnvolle Rede von Ideologie setzt eine Erkenntnis der Gesellschaft als Ganzer voraus, sprich einen Begriff von Totalität.

Für die Sozialwissenschaften ist das tatsächlich ein wunder Punkt. Denn die Möglichkeit einer solchen universalen Gesellschaftstheorie wurde in den vergangenen Jahrzehnten systematisch bestritten. Die funktional ausdifferenzierte moderne Gesellschaft galt mithin als zu komplex, um sie auf einen einfachen Begriff oder Zusammenhang zu bringen. Poststrukturalistische Sozialontologien gingen von der Unbestimmtheit des Sozialen aus und wollten daher von Gesellschaft nicht mehr im Singular sprechen. In der Sozialphilosophie begrüßte man erleichtert die Verabschiedung der Idee einer gesellschaftlichen Totalität.

So radikal sich die kritischen Theorien der Gegenwart des Begriffs der Totalität entledigt haben, so wenig konnten sie allerdings das damit verbundene Problem aus der Welt schaffen, dass die bürgerliche Gesellschaft trotzdem noch als begründbarer, zweckgerichteter Herrschaftszusammenhang funktioniert. Seit einigen Jahren kehren daher die »großen Fragen« wieder in die Theorie zurück: Die Klassentheorie macht sich in einem Revival auf die Suche nach der bestimmenden Struktur der Gesellschaft, die Neuauflage der Autoritarismusanalysen fragt nach den gesellschaftlichen Ursachen des »Rechtsrucks« und von der Soziologie bis zur Sozialphilosophie wird die Rückkehr einer Gesellschaftstheorie gefordert.

Diese Rückkehr dürfte jedoch eher ein weiterer Innovationszyklus im akademischen Betrieb sein, nachdem sich die Theorien der gesellschaftlichen Unbestimmtheit erschöpft haben. Andernfalls müsste man Auskunft darüber geben, was sich an den gesellschaftlichen Verhältnissen geändert haben soll, die vormals eine Erkenntnis der Totalität unmöglich machten, nun aber zu ihrer Erfüllung drängen. Die gute Nachricht ist: In der Linie materialistischer Theorie von Marx über die Kritische Theorie bis zu Louis Althusser war die Kritik des falschen Bewusstseins des gesellschaftlichen Ganzen der Ausgangspunkt, um überhaupt eine Erkenntnis der Gesellschaft zu ermöglichen. Für ein solches Unterfangen steht also allerhand Material zur Verfügung.

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