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Leo Trotzki: Optimismus und Freiheit

Lesen ist wie Weintrinken und Nachdenken über Befreiung: »Literatur und Revolution« von Leo Trotzki in neuer Ausgabe

Leo Trotzki galt als der beste Redner der Bolschewiki. Weil er das wusste, war er vielleicht zu arglos, als es nach Lenins Tod 1924 um dessen Nachfolge ging. Er wurde von Josef Stalin und anderen ausgebotet, woraus letztlich nur Stalin einen Vorteil zog – denn »der Verräter, Stalin, bist du!«, wie es 1939 Willi Münzenberg ausdrückte, der diese Position ebenso wenig wie Trotzki überleben sollte: Beide starben 1940 im Exil, Münzenberg unter dubiosen Umständen, Trotzki wurde von einem sowjetischen Geheimagenten ermordet.

Trotzki war Berufsrevolutionär, eine Tätigkeit, zu der heutzutage kaum noch jemand in der Lage ist, denn der nächste Sachzwang ist immer der schwerste. So entschuldigen sich die linken Parteien, sofern sie in den Parlamenten vertreten sind und sich freuen, da am Rand mitlaufen zu dürfen. Trotzki hingegen war sein ganzes Leben in der Opposition, nur nicht von Herbst 1917 bis Anfang 1925, als er Mitglied der revolutionären Regierung war.

Er lamentierte nicht über Sachzwänge, sondern war ein unerschütterlicher historischer Optimist. 1901 veröffentlichte er einen Text über den Beginn des 20. Jahrhunderts, das den Optimisten zu »absolutem Pessimismus« verurteilen möchte: »›Tod den Utopien! Tod dem Glauben! Tod der Liebe! Tod der Hoffnung!‹, dröhnt das zwanzigste Jahrhundert mit Gewehrsalven und Kanonendonner. ›Gib auf, armseliger Träumer! Hier bin ich, dein langersehntes zwanzigstes Jahrhundert, Deine ›Zukunft‹!...‹ ›Nein!‹, antwortet darauf der unbeugsame Optimist: ›Du bist nur die Gegenwart!‹«

Aus dieser Haltung heraus initiierte Trotzki dann auch 1938 die Gründung einer neuen Internationale in der Nähe von Paris mit knapp 30 Leuten. Da er in Frankreich zur unerwünschten Person erklärt worden war, konnte er nicht persönlich anwesend sein und befand sich im mexikanischen Exil. Damit fingen die Probleme dieser »Vierten Internationale« auch schon an, die sich bis zur Karikatur aufspaltete, anstatt zu wachsen.

Im selben Jahr veröffentlichte er mit dem Schriftsteller André Breton, dem Kopf der Surrealisten, und dem Maler Diego Rivera das Manifest »Für eine unabhängige sozialistische Kunst«. Darin betonten sie, dass die Revolution die Kunst nicht fürchte, im Gegenteil: Die sozialistische Ökonomie sollte »von Anfang an für das intellektuelle Schaffen ein anarchistisches Regime individueller Freiheit etablieren und sichern.« Man könnte auch sagen: Sozialismus in der Produktion, Anarchie im Denken – ein Ansatz, den die Kommunistischen Parteien weltweit hassten, egal, ob sie an der Macht waren oder nicht.

Trotzki war ein Mann der Praxis und Theorie gleichermaßen, der sehr viel las und darüber nachdachte, ob und wie seine Lektüre für die Emanzipation der Menschen produktiv gemacht werden könnte. Seit 1900, da war er 21 Jahre alt, schrieb er unter dem Pseudonym Antid Oto für die in Irkutsk erscheinende »Wostotschnoje Obosrenije« (Östliche Rundschau) verschiedene Artikel: Essays, Reportagen und literatursoziologische Studien. Letztere sind nun unter dem Titel »Literatur und Revolution« erschienen, herausgegeben von Helmut Dahmer, Wolfgang Feikert und Julijana Ranc, als insgesamt achter Band der »Trotzki Schriften«, mit deren Edition Dahmer seit Ende der 80er Jahre befasst ist. Eine ebenso verdienstvolle wie mühselige Aufgabe, seitdem Jan Philipp Reemtsma, der sich in jüngeren Jahren als Trotzkist verstand, die Förderung einstellte. Insbesondere die erklärenden Fußnoten in diesem Band sind eine philologische wie soziologische Meisterleistung.

1900 war Trotzki nach Südsibirien verbannt worden und lebte dort mit seiner ersten Frau Alexandra L. Sokolowskaja und ihren beiden Töchtern, 6000 Meilen entfernt von Odessa, wo er 1897 den Südrussischen Arbeiterbund mitgegründet hatte und schon ein Jahr später verhaftet worden war. In der Verbannung, aber auch in den Gefängnissen, nach eigener Schätzung war er in seinem Leben 20 Mal in Haft, las er viele Bücher, die er dann wieder zu Aufsätzen und Büchern verarbeitete. »Zur Erholung las ich die Klassiker der europäischen Literatur«, erinnert er sich in seiner Autobiografie »Mein Leben« über einen Gefängnisaufenthalt 1906: »Ich lag auf der Pritsche und verschlang die Werke mit einem solchen physischen Lustgefühl, wie Gourmets feinen Wein schlürfen.«

Versammelt sind 69 Texte von Trotzki aus den Jahren 1900 bis 1916, einen weiteren Band mit seinen Literaturschriften von 1919 bis 1940 hoffen die Herausgeber »in absehbarer Zeit veröffentlichen zu können«. Trotzki befasst sich hier unter anderem mit Nietzsche, Ibsen, Herzen, Gorki, Gogol, Schnitzler, Wedekind, aber auch mit dem Abrisskalender, der Münchner Satirezeitschrift »Simplicissimus«, Ausstellungen der »Wiener Secession« oder dem Ende der »dicken Journale«, der russischen Monatszeitschriften des 19. Jahrhunderts, deren politische Unverbindlichkeit ihm aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Scharfsinnig klopft Trotzki all diese Autoren, Erzeugnisse und Werke auf ihren politischen Gehalt ab. Er will die Antwort nach den Fragen der Wirksamkeit von Kunst »in den gesellschaftlichen Verhältnissen, in ihrer historischen Entwicklung suchen«, wie er in dem Text »Neujahrsgespräch über die Kunst« schreibt.

An Ibsen lobt er »die wahrhaft ruhmvollen Ohrfeigen«, die dieser der »vor Selbstzufriedenheit glänzenden Spießbürger-Visage verpasst hat«, Schnitzler ist für ihn »ein Ästhet und nur ein Ästhet« und »Tolstoi erkennt die Geschichte nicht an«. Letzteres gelte auch für Gogol, der die russische Erzählung zwar aus ihrer Zweitklassigkeit befreit habe, so dass »unsere Schriftsteller nicht mehr Duplikate von europäischen Genies« sein wollten, der aber dann »unvermittelt, wehrlos und unvorbereitet vor einer Masse von miteinander zusammenhängenden Fragen« gestanden habe, was ihn zu den »jämmerlichen Denkmodellen« der Mystik habe greifen lassen.

Als Trotzki 1908 in Wien die Führer des Austromarxismus kennenlernte, war er perplex, dass sie reine Theoretiker fern der Praxis sein wollten. »Das waren sehr gebildete Menschen, die auf verschiedenen Gebieten mehr wussten als ich«, schreibt er in »Mein Leben«, aber sie »waren keine Revolutionäre« und unfähig, die »Marxsche Methode« anzuwenden, sie waren schon glücklich, wenn die Arbeiter sie mit »Genosse Herr Doktor« anredeten.

Auch vom Futurismus hielt Trotzki wenig, die »Vergötterung des Wortes«, die »vom Inhalt gelöste Form« schien ihm gewaltsam, da »vom Wort ungeheuer viel verlangt werde – weit mehr, als es seiner Natur nach zu geben imstande ist«. Und trotzdem war er Zeit seines Lebens für die Autonomie der Kunst, ein Prinzip, das von vielen Linken wie Rechten verdammt wurde. Auch bei den russischen Futuristen war er überzeugt, dass dieser »historische Dünger (…) zu gegebener Zeit zweifellos etwas Neues ermöglichen« wird.

Leo Trotzki: Schriften 4.1: Literatur und Revolution 1900–1916. Herausgegeben von Helmut Dahmer, Wolfgang Feikert und Julijana Ranc. Neuer ISP Verlag, 749 S., geb., 70 €.

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