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Wundervoll und gefährlich

Ewigkeitschemikalien zwischen weltweiter Regulierung und EU-Verbot – die Entwicklung von Ersatzstoffen ist langwierig

Pizzakartons sehen zwar aus wie aus Pappe, können aber mit umweltschädlichen Chemikalien beschichtet sein.
Pizzakartons sehen zwar aus wie aus Pappe, können aber mit umweltschädlichen Chemikalien beschichtet sein.

Als vor genau 20 Jahren die Stockholm-Konvention in Kraft trat, markierte dies nach Ansicht von Sona Dadhania einen historischen Moment: »Es war der erste globale Vertrag, der darauf abzielte, gesundheitsschädliche Chemikalien für Mensch und Umwelt zu beseitigen oder einzuschränken«, wie die Expertin vom Marktforschungsunternehmen IDTechEx erläutert. Genauer gesagt regelt das bei einer Konferenz in der schwedischen Hauptstadt verabschiedete Übereinkommen den Umgang mit »langlebigen organischen Schadstoffen«. Erstaunlich spät, bedenkt man, dass gefährliche Chemikalien seit Mitte des 19. Jahrhunderts im industriellen Maßstab hergestellt und verarbeitet werden.

Die mittlerweile von 186 Staaten ratifzierte Stockholm-Konvention startete mit dem Verbot des »Dreckigen Dutzends«: Zwölf organische Chlorverbindungen, die als krebserregend gelten und das Erbgut verändern können, werden nach und nach aus dem Verkehr gezogen. Dazu zählen das Insektizid DDT und Polychlorierte Biphenyle (PCB) – die Industriechemikalien finden sich vor allem in Transformatoren und Kondensatoren. Ferner regelt das UN-Abkommen Fragen der Entsorgung und der Unterstützung armer Länder durch Geld, Wissens- und Technologietransfer. Das Sekretariat der Konvention in Genf sammelt zudem wichtige Informationen, überwacht das Register mit Ausnahmeregelungen für bestimmte Länder und nimmt Anträge auf Ausweitung der Bestimmungen entgegen.

Längst nicht alle PFAS sind bekannt

Das genau ist der Charme der Konvention: Ihr Ausbau ist erwünscht. Vor allem die EU und einzelne europäische Staaten haben im Laufe der Jahre weitere Substanzen zur Aufnahme empfohlen. Laut Dadhania markierte das Jahr 2009 einen weiteren »Meilenstein«. Damals wurden Perfluoroctansulfonsäure und ihre verwandten Stoffe als erste aus der Gruppe der per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS) auf internationaler Ebene geregelt. Die PFAS, die in der Natur nicht vorkommen, bestehen aus Kohlenstoffketten, deren Wasserstoffatome ganz oder teils durch Fluoratome ersetzt wurden. Da sie in der Umwelt kaum abbaubar sind, werden sie als »Ewigkeitschemikalien« bezeichnet. Doch der Weg, den die Konvention aufzeigt, ist ein extrem langer. Bisher wurden erst drei PFAS-Chemikalien in die Konvention aufgenommen – die Gruppe umfasst nach OECD-Definition aber fast 5000 Stoffe. Neuere Schätzungen gehen von 10 000 oder gar 12 000 Substanzen aus. Obwohl PFAS seit mindestens 50 bis 60 Jahren auf dem Markt sind, »kennen wir immer noch nicht alle Stoffe«, erklärt Mark Bücking vom Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie. Da die Forschung aber dennoch immer weitere Risiken für die Gesundheit von Mensch und Umwelt identifiziert, beginnen laut einer IDTechEx-Studie Aktivisten und Gesetzgeber weltweit, einen aktiveren Ansatz zur Regulierung von PFAS zu wählen.

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Den »aggressivsten« Ansatz zur Regulierung verfolgt demnach Europa. Im Januar 2023 reichten Fachbehörden aus Dänemark, Deutschland, den Niederlanden, Norwegen und Schweden bei der Europäischen Chemikalienagentur einen Vorschlag ein, Herstellung, Import und Verwendung aller PFAS mit wenigen Ausnahmen in der EU zu verbieten. In der folgenden öffentlichen Konsultation gingen über 5600 Stellungnahmen von Interessengruppen ein. Die meisten kritischen Einwendungen kamen aus Deutschland und Japan – Ländern mit mächtiger Chemiebranche. Aus Schweden gingen die meisten positiven Stellungnahmen ein.

Viele nützliche Eigenschaften

Das Problem mit dem Verbot: »PFAS haben wundervolle Eigenschaften«, wie es selbst beim Naturschutzbund (Nabu) heißt. Sie sind wasser-, fett- und schmutzabweisend sowie hitze- und säurestabil. Außerdem ist ihr Einsatzgebiet vielfältig. Sie kommen in Einweg-Kaffeebechern und Pizzakartons, in Textilien und Möbeln, in Löschschaum und Implantaten, im Kochgeschirr und sogar in Zahnseide vor. Befürworter führen zudem ins Feld, dass gerade Zukunftsbranchen wie Wasserstoffwirtschaft, die Mobilfunktechnologie 5G, Elektrofahrzeuge, nachhaltige Verpackungen und Wärmepumpen auf PFAS setzen.

Gleichzeitig sind aber die Gefahren für Menschen, Tiere und Pflanzen gut belegt. Gelangen die Stoffe in die Umwelt, was vor allem bei Produktion und Entsorgung über das Abwasser und die Abluft von Fabriken und Deponien geschieht, reichern sie sich auch noch an. PFAS lassen sich mittlerweile weltweit in Böden und selbst im Trinkwasser nachweisen, etwa in Deutschland. Daher fordert auch der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) in einer gemeinsamen Stellungnahme mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) ein strenges Verbot. Der Grund liegt auf der Hand: Nach dem Stand der Technik können die PFAS nur teilweise zurückgehalten werden und sind daher sowohl in Kläranlagenabläufen als auch im Klärschlamm nachweisbar. Die Anforderungen an die teure mechanisch-biologische Behandlung des Abwassers nehmen zu. Daher möchten BDEW und BUND Hersteller in der Chemieindustrie wie auch im Handel an den Kosten beteiligen: »Umweltauswirkungen müssen eingepreist sein. Auch um die Entwicklung umweltfreundlicher Alternativen zu fördern.«

Genau dies ist die Gretchenfrage: Um PFAS zu verbieten, braucht es gleichwertige Ersatzstoffe. Tatsächlich wird vielerorts daran geforscht, und zahlreiche Unternehmen werben mit »PFAS-freien« Alternativen. Ein Verbot werde kommen, ist daher Bernd Wille vom Nabu-Fachausschuss Umweltchemie und Ökotoxikologie überzeugt, aber mit Ausnahmen und Übergangsfristen. Etwa für Teflon – in der Medizintechnik ein zentraler Stoff: »Dafür Ersatzstoffe zu entwickeln, dauert sehr lange«, erläutert der Chemiker. Dennoch sollte das Verbot schon 2026 in Kraft treten: »Der Teil der Industrie, der erkannt hat, dass wir von den fluorierten Verbindungen wegmüssen, braucht das Verbot für die Planungssicherheit. Der andere Teil braucht das Verbot, damit er anfängt, sich zu bewegen.«

Erste Ersatzstoffe im Textilsektor

Denn Druck von Außen befördert offenbar die Entwicklung von Ersatzstoffen, wie der Textilsektor zeigt. PFAS kommen insbesondere in Outdoor-Bekleidung zum Einsatz, deren Verbraucher viel Zeit in der Natur verbringen und als generell umweltbewusster gelten. »Weltweit hat die Besorgnis der Verbraucher über die schädlichen Auswirkungen von PFAS in der Mode in den letzten Jahren zugenommen«, sagt Marguerite LeRolland, Branchenexpertin beim Marktforschungsunternehmen Euromonitor. Zahlreiche US-Bundesstaaten planen ein Verbot in Textilien, nachdem Aktivistenkampagnen und Gerichtsverfahren die Aufmerksamkeit auf die giftigen Chemikalien gelenkt haben. Dies hat die Forschung weltweit beschleunigt: Das Londoner Start-up Amphico, das vom Textilgroßhändler Toyoshima aus Japan mitfinanziert wird, hat vollständig recycelbare, PFAS-freie, atmungsaktive und wasserabweisende Fasern für Outdoor- und Sportbekleidung entwickelt und will noch in diesem Jahr mit der Massenproduktion beginnen.

Auch beim japanischen Chemiekonzern Toray, einem der größten Hersteller wasserabweisender Fasern, geht es bei Textilien in Richtung PFAS-Freiheit – mehr als 90 Prozent seiner Produkte, die diese Stoffe enthielten, wurden nach Eigenaussage ersetzt. Allerdings seien diese in Baumaschinen, Autos, Flugzeugen, landwirtschaftlichen Maschinen, Halbleitern und Filtern »unverzichtbar«.

Ähnliches hört man auch von Teilen der Chemielobby in Europa, die mit der großen Keule der Abwanderung von Industrien gegen ein strenges Verbot Stimmung macht. Mit Erfolg: Vor wenigen Tagen wurde ein Schreiben von Kommissionschefin Ursula von der Leyen bekannt, in dem eine massive Ausweitung der Ausnahmen und eine generell spätere Einführung gefordert werden.

Starke Chemielobby in Deutschland

Gerade in Deutschland gibt es einflussreiche Unterstützer: So versuchen CDU und CSU die Bundesregierung dazu zu bringen, das EU-weite Verbot in der geplanten Form abzulehnen und sich für längere, teils unbefristete Ausnahmen einzusetzen. Ende April veranstaltete die Union im Umweltausschuss des Bundestags eine öffentliche Anhörung zu PFAS mit der Kernforderung nach Erhalt der Wertschöpfung. »Ein weitreichendes Verbot von PFAS bedroht nicht nur unseren Wohlstand. Auch unsere Gesundheitsversorgung ist massiv gefährdet«, so der zuständige Berichterstatter Alexander Engelhard.

Dies hat zwar keine inhaltliche Substanz, verdeutlicht aber, wie erfolgreich die Lobbyarbeit gerade der Chemieindustrie ist. Das gilt auch sonst: Hersteller müssen gegenüber der Europäischen Chemikalienagentur eigentlich nachweisen, wie ihre Stoffe sicher verwendet werden können. Tatsächlich ist, wie es heißt, schon die Bereitstellung der Daten über die Zusammensetzung von Produkten lückenhaft und wenig transparent. Laut einer Analyse des Europäischen Umweltbüros ist vier Jahre nach Veröffentlichung der EU-Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit lediglich eines von 13 Zielvorgaben umgesetzt. Die PFAS machten dies besonders deutlich: Die behördliche Aufsicht sei überfordert, und es gebe einen »erschreckenden Mangel an Unternehmensintegrität«, so der NGO-Dachverband. Er sieht ferner »ein beunruhigendes Maß an Unwissenheit bei den nachgeschalteten Anwendern von Chemikalien«.

Daher braucht es mehr Anstrengungen im Rahmen des Stockholmer Übereinkommens, angesichts seiner Verbindlichkeit und internationalen Reichweite. Und die Konvention wird weiterentwickelt: Ein neuer Mechanismus soll die Einhaltung der Verpflichtungen durch die einzelnen Vertragsparteien besser kontrollieren. Die Aufgaben dürften selbst in ferner Zukunft, wenn die PFAS umfänglich begrenzt werden, nicht weniger werden: Auch unter den Ersatzprodukten finden sich nämlich Stoffe, die als gesundheitsgefährdend gelten.

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