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Gegen Eribon
Vom Wir zum Ich: Die Arbeiter*innenkinderliteratur ersetzt die Arbeiter*innenliteratur
Die Arbeiter*innenliteratur hatte in Deutschland schon immer einen schweren Stand, inzwischen ist sie nahezu inexistent. Substituiert wird sie spätestens seit Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« von einem Genre, das man Arbeiter*innenkinderliteratur nennen könnte. Bevorzugtes Mittel dieses Genres ist die Autobiografie, die angelegt ist wie ein Künstlerroman des 19. Jahrhunderts: Den Werdegang der Protagonist*innen erzählen und von all den kleinen und großen Kränkungen und Unsicherheiten, Fehltritten und Erweckungen, wie sie auch ein Frédéric Moreau in Flauberts »Éducation sentimentale« durchläuft. Unterbrochen wird der Erzählfluss nach dem Vorbild Eribons durch soziologische Einsprengsel und psychologische Überlegungen.
Diese Geschichten von der Emanzipation der eigenen Vergangenheit, der Emanzipation von den Eltern, sind liberale Individualisierungsgeschichten. Oder wie es Iuditha Balint, Leiterin des Fritz-Hüser-Insituts, ausdrückt: Die Protagonist*innen der Arbeiter*innenliteratur stehen für ein »Wir« ein, für ihre Klasse. In der Arbeiter*innenkinderliteratur aber tritt das »Ich« viel stärker hervor.
Ein Merkmal dieser Art der Literatur ist der Verrat an den eigenen Eltern. Sie werden zu simplen Vertreter*innen einer Schicht, der zu entfliehen ihre Kinder so viel gekostet habe. Sie tragen mehr Stigmata als Eigenschaften: ihrer Stimme sind sie in der Regel beraubt. Auf Verständnis dürfen sie selten hoffen, ihre Rolle ist jene einer märchenhaften Stiefmutter: verbittert, verbiestert, verhärmt.
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Sie stehen auch fast immer als beispielhaft für eine linke Arbeiterschaft. Das fällt auf die politische Linke zurück. In »Rückkehr nach Reims«, das 2009 in Frankreich und 2016 in deutscher Übersetzung erschien, macht Eribon unverhohlen den Dirigismus der kommunistischen Partei verantwortlich für die Hinwendung seiner Eltern zum Front National – das ist eine neue, perfide Art der Hufeisentheorie, die freilich gerade in Deutschland auf fruchtbaren Boden fällt. Schuld am Aufstieg der Rechten seien verdrängte Konflikte innerhalb der Linken, und das deswegen, weil sie Extremismen sind; mit dieser Volte wird die bürgerliche Mitte als Ideal gesetzt. Das soll summarisch nicht nur den Aufstieg der AfD in Ostdeutschland erklären, sondern den Aufstieg der Rechten in ganz Europa. Was Eribon hier als soziologisch grundierte Analyse anbieten will, ist seine psychologische Abschirmung gegen jede Kritik. Er sichert sein durch sozialen Aufstieg gewonnenes bürgerliches Ich ab.
Eribons Werke selbst sind freilich fragmentierter als ein klassischer Entwicklungsroman, folgen aber dem gleichen Grundsatz: Die Erzählung der Eltern als Vertreter*innen einer ganzen Klasse wird zum Hintergrundrauschen für die eigene Selbstbespiegelung. In seinem neuen Buch, das von seiner Mutter handelt und »Eine Arbeiterin« heißt, macht Eribon diesen Topos besonders im Eingangskapitel stark. Seine Mutter soll (laut Eribon: muss) ins Heim, weil sie sich selbst nicht mehr versorgen kann und Alternativen fehlen. Sie aber weigert sich, weswegen ihre Söhne – die es in alle Winde verstreut hat – ihr die Vernunft einzubläuen versuchen. Bei Eribon wird dann daraus, dass er einen descartschen Fatalismus gegen seine eigenen früheren marxistischen Träumereien ins Feld führt, um eine Unausweislichkeit zu belegen, die es nicht gibt. Natürlich gäbe es die Möglichkeit, die Mutter zu Hause zu versorgen: Es wäre nur konträr zu den Lebensentwürfen ihrer Kinder.
Das auszusprechen kommt ihm gar nicht in den Sinn, weil zu seinem Lebensentwurf auch gehört, kurz nachdem die Mutter ins Heim einzieht, mehrere Wochen nach Italien zu fahren. Und obwohl er sich vorgenommen hat, häufig in jenem Dorf, wo er die Mutter geparkt hat, zu sein, schafft er dies am Ende wegen seines Urlaubs nur zweimal: damit beginnt das Buch. Es ist mehr ein Entschuldigungsschreiben als eine Studie und vielleicht erklärt das seinen Erfolg. Dass Eribon allerdings sich im letzten Absatz des Buches die Frage stellt, ob man »den Alten« nicht mehr zuhören, ihnen gar eine Stimme verleihen müsse – er selbst aber den Willen seiner Mutter mit der ihm verfügbaren Belesenheit und intellektuellen Autorität übergeht – wirft die Frage auf, welcher Art seine Studie geworden wäre, wäre er dageblieben. Und ob seine Methode der Äquidistanzierung dann immer noch funktionieren würde.
Der Verrat an den Eltern ist auch ein Verrat an der eigenen Klasse und ein Verrat an sich selbst. Dieser Verrat wird vergolten mit Aufmerksamkeit und Lob und Preisen und Posten. Das ist kein Vorwurf an die Autor*innen, die sich aus dem Arbeitermilieu hinaus ins Prekariat hochgekämpft haben. Sie sind darauf angewiesen, dass ihnen der Betrieb diese Art Zuwendung zeigt.
Es gibt freilich Autor*innen, die sich dieser Logik verweigern. In Deutschland ist ein Beispiel unter einigen für eine ehrliche Selbstbefragung Ulrike Draesner, in Frankreich wäre ein Beispiel Annie Ernaux. Jene Annie Ernaux, die vor der Auszeichnung mit dem Literatur-Nobelpreis in Deutschland eher pflichtschuldig rezipiert wurde, als dass ihr Schreiben und Selbstbefragung fruchtbar gemacht worden wäre. Stattdessen wird mit Édouard Louis der nächste Verrat und bürgerliche Narzissmus gefeiert, der seine Idolisierung des Ichs zwar geschickter, aber nicht weniger aufdringlich als Benjamin von Stuckrad-Barre vorantreibt. Das Nobelpreiskomitee war also schlauer als das deutsche Feuilleton, weil letzteres in der Betrachtung der Arbeiterklasse nicht mehr als eine Reihe medizinisch relevanter Diagnosen (Alkoholismus, Psychosen, etc.) sehen will. Dass unter solchen Voraussetzungen immer die Falschen gefeiert werden, verwundert nicht; schade ist es dennoch.
Schade vor allem für jene, die unter Kultur hierzulande mehr verstehen als ein eng eingegrenztes Privileg. Dass die Literaturwelt ihren fortwährenden Bedeutungsverlust beklagt, ohne ihn beheben zu können, liegt auch an einer Anfälligkeit für Eribons Methode. Der erzählt nämlich nicht von echten Dingen – wie es ist, die Mutter zu pflegen, wie es ist, arm zu sein – sondern stellt sie sich vor, weil seine Eltern das so gehalten haben oder so waren. Das hilft vor allem ihm selbst und das ist die ganze Moral daran.
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