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75 Jahre Grundgesetz: Geschwätzig oder gründlich?

Rosemarie Will über das penible Grundgesetz, Vorzüge und Versäumnisse

75 Jahre Grundgesetz – Anlass für einen Lobgesang auf eine geglückte Verfassung?

Ja, unbedingt. Es ist die erfolgreichste deutsche Verfassung, die es je gab. Ohne Zweifel. Und im internationalen Vergleich dürfte sie, wegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, die wirkmächtigste Verfassung sein.

Aber in negativer Erinnerung vieler Bürger sind nicht nur die Notstandsgesetze der 70er Jahre, sondern auch der Rückbau des Grundrechts auf Asyl 1992, die Ermöglichung eines »Großen Lauschangriffs« 1998 und, und, und ...

Ja, das ist richtig. Um das Asylgrundrecht ist hart gerungen worden, in anderen Verfassungen existiert es gar nicht. Auch die Notstandsgesetzgebung zur Bekämpfung von Terrorismus ist in anderen Staaten viel rigider, erlaubt raschere Reaktionen, ist aber verfassungsrechtlich nicht limitiert.

Garantiert das Grundgesetz eine wehrhafte Demokratie, wappnet es uns ausreichend gegen rechte Gefahren?

Nicht unmittelbar. Da ist meines Erachtens die Wirkung des Grundgesetzes begrenzt. Ich denke, die Demokraten müssen die Demokratie verteidigen. Ich bezweifle, dass ein Parteienverbot in einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Krise die Lösung ist, ob hinsichtlich NPD oder AfD. Da bin ich eher skeptisch.

Wie kann man ansonsten Angriffe auf die Demokratie abwehren?

Man braucht eine viel stärkere inhaltliche Auseinandersetzung im gesamtgesellschaftlichen Rahmen.

Sie sind Jahrgang 49 – wie das Grundgesetz! Was sind aus Ihrer Sicht dessen wichtigste Artikel?

Interview

Rosemarie Will, 1989 bis 2014 Professorin für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin, war beratend am Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR beteiligt und zehn Jahre Verfassungsrichterin in Brandenburg. Sie ist Autorin und Mitherausgeberin des jährlichen Grundrechte-Reports sowie der »Blätter für deutsche und internationale Politik«.

Die Grundrechte, und darunter wiederum jene, die den offenen demokratischen Diskurs unterstützen, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit. Die Kommunikation muss funktionieren, damit die Verfassungsordnung stabil bleibt.

Es hat in den letzten Jahren Forderungen nach Aufnahme weiterer Rechte ins Grundgesetz gegeben. Als ein Beispiel: Tierschutz ist kodifiziert, aber nicht einklagbar. Was nützt das dann?

Grundrechte müssen subjektiv sein. Das ist übrigens auch eine Erfahrung aus der DDR. Das heißt, sie müssen individuell durchsetzbar sein und das bedeutet am Ende auch einklagbar. Die Grundrechte, wie sie klassisch formuliert sind, sind individuelle Rechte und im hohen Maße durchsetzbar. Jeder Bürger, jede Bürgerin kann sich auf die Grundrechte in jeder Verwaltung, vor jedem Gericht berufen. Und wenn dem nicht gefolgt wird, kann er oder sie Verfassungsbeschwerde einlegen.

In den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass auch Tierschutzbestimmungen durchsetzbar sein müssen, vor dem Verfassungsgericht eingefordert werden können. Das ist mit dem Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021 erfolgt. Was gab es da für einen Aufschrei, als Karlsruhe zum großen Erstaunen vieler, Klimaklagen für begründet erklärte. Ich will damit sagen, dass die Rechtsprechung durchaus Wege öffnet, um bestimmte noch nicht exakt formulierte Rechte einklagen zu können. Das ist bei unserem nationalen Umweltschutz geschehen und jüngst auch durch den Europäischen Gerichtshof.

Warum sind noch immer nicht Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen worden?

Ich bin sehr dafür. Im Verfassungsentwurf vom Zentralen Runden Tisch haben wir diese reingeschrieben. Und sie wurden auch zur Verfassungsreform 1994 vorgebracht, jedoch von der gemeinsamen Kommission des Bundestages und Bundesrates abgelehnt.

Es gibt eine Initiative, die das Recht auf Kultur für alle im Grundgesetz garantiert haben möchte. Wie stehen Sie dazu? Dies würde sicher stärkere staatliche Subventionen erfordern.

Da bin ich unsicher. Mehr Kulturgenuss für alle ist schön. Aber wie soll man eine Subventionsforderung etwa für Jugendklubs oder Filmförderung einklagen. Das dürfte schwierig sein.

Die Freiheit der Kunst ist kodifiziert. Wird sie zuweilen von manchen überstrapaziert, wie Vorwürfe unter anderem in der Debatte um die letzte Documenta lauteten?

Nein. Das muss man aushalten. Die Kunstfreiheit in Frage zu stellen, weil einem irgendwelche politischen Inhalte nicht passen, geht gar nicht. Wenn man der Meinung ist, dass eine bestimmte künstlerische Äußerung rassistisch ist, kann man auf das Grundgesetz zurückgreifen, aus der Verfassung heraus argumentieren oder handeln. Das wäre gar kein Problem.

Wie viel gehört in eine Verfassung? Platzt der moralisch-rechtliche Kodex der Bundesrepublik nicht bald aus allen Nähten? Moses genügten zehn Gebote.

So viele oder gar zu viele Grundrechtsartikel gibt es gar nicht im Grundgesetz. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts hat nach über 70 Jahren natürlich viele Artikel konkretisiert und zwar sehr ausführlich – in einer Weise, wie es weltweit nicht der Fall ist. Ob das Grundgesetz geschwätzig ist oder nicht und sich Dinge anmaßt, die eigentlich der Gesetzgeber machen sollte, steht auf einem anderen Blatt. Hinsichtlich des Föderalismus sind ins Grundgesetz Bestimmungen reingeschrieben, die eigentlich in die Gesetzgebung gehören. Das trifft auch auf den Grundrechtsteil zu, so bezüglich Wohnungsdurchsuchung oder Fragen des Asylrechts.

Warum hat man das gemacht?

Im Grunde genommen, weil man dem Gesetzgeber nicht immer traute.

Dem Parlament?!

Einer einfachen Mehrheit nicht. Alles, was man in die Verfassung festgeschrieben hat, beispielsweise die Schuldenbremse, fesselt den Gesetzgeber. Für eine Verfassungsänderung braucht er mehr als eine einfache Mehrheit.

Das Grundgesetz ist vom Misstrauen gegenüber dem Volk geprägt? Die Verfassung einer Demokratie findet die Demokratie selbst höchst suspekt?

Nein, wenn man tatsächlich darauf bauen will, dass der Gesetzgeber Grundrechte wahrt, wechselnde Mehrheiten sich an diese halten, braucht man eine Verfasstheit, die das garantiert. Verfassungsrechtliche Grundsätze dürfen nicht laufend mit einfachen Mehrheiten zu ändern sein. So sichert man die Rechte der Minderheit. Verfassungsgebung ist immer etwas, was grundsätzlich politisch gewollt ist, und da kommt es auf mehr als die einfache, politische Mehrheit an.

Sie haben beratend am Verfassungsentwurf des Runden Tisches mitgewirkt. Warum ist von diesem nichts ins Grundgesetz eingeflossen?

Die Verfassung des Runden Tisches für eine reformierte DDR entstand in dem kurzen Zeitraum von Dezember ’89 bis April ’90. Die SED-Herrschaft war gestürzt, die Grenze offen und die Frage der deutschen Einheit wurde diskutiert: Sollte die Vereinigung über Artikel 23, also Beitritt, oder 146 mit einer neuen gesamtdeutschen Verfassung vollzogen werden? Eine neue DDR-Verfassung hätte den neuen Gesetzgeber, die am 18. März frei gewählte Volkskammer, gebunden. Sie hätte bei den Verhandlungen zum Staatsvertrag auf diese Rücksicht nehmen müssen. Das hat die Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt.

Zur Erinnerung: Die Allianz für Deutschland hatte den Wahlkampf für Artikel 23 GG a.F. geführt, da störte jede verfassungsrechtliche Neukonstituierung; die FDP ist mitgegangen. Die SPD war uneinig, die Grünen, Partner vom ostdeutschen Bündnis 90, drängten nicht auf die deutsche Einheit. Die PDS hatte keinen westdeutschen Partner. Die Regierung Modrow beziehungsweise dann die Regierung der nationalen Verantwortung plädierte für einen längeren Weg in die deutsche Einheit, was die Mehrheit der Ostdeutschen nicht wünschte.

In der gegebenen parteipolitischen Konstellation hatte der Verfassungsentwurf des Runden Tisches keine Chance. Die Volkskammer und die erste frei gewählte Regierung der DDR waren letztlich dann der Verhandlungsmacht des Westens unterlegen.

Welche Vorzüge hatte der Verfassungsentwurf des Runden Tisches?

Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches ging mit dem Schutz der Familie auch jenseits der traditionellen Ehe, Schwangerschaftsabbruch und Umweltschutz weiter als Grundgesetz, aber auch – aufgrund der Stasi-Erfahrung – hinsichtlich des Datenschutzes. 1994 wurde mit der Verfassungsgebenden Kommission von Bundestag und Bundesrat ein neuer Ansatz versucht, der aber auch zum Scheitern verurteilt war, weil er nicht gewollt war.

Welchen Weg in die Vereinigung hätten Sie besser gefunden?

Über Artikel 146. Wir hätten sicher auch dann nicht alles von unseren verfassungsrechtlichen Vorstellungen durchsetzen können, aber der Osten hätte sich mit eingebracht in die Gestaltung einer neuen Verfassungsordnung. Es gab im Westen überhaupt keine Mehrheit dafür, am Grundgesetz etwas zu ändern, man war überrascht von der ostdeutschen Revolution und vielleicht auch über die Ansprüche der Ostdeutschen an die deutsche Wiedervereinigung.

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