Rainald Goetz: Kritik und Liebe

Literatur zwischen Punk und Luhmann: Der Schriftsteller Rainald Goetz wird 70 Jahre alt

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 4 Min.
Roman auf Abstand: Rainald Goetz präsentiert 2012 am Deutschen Theater Berlin »Johann Holtrop«.
Roman auf Abstand: Rainald Goetz präsentiert 2012 am Deutschen Theater Berlin »Johann Holtrop«.

Denn alles, alles, alles geht uns an.« Diesen maximalistischen Dauerrezeptionsimperativ, getarnt als Aussagesatz, verlas 1983 Rainald Goetz mit 29 Jahren mit blutender Stirn vor laufender Kamera in Klagenfurt am Wörthersee. Das Wettlesen um den Bachmannpreis sollte der promovierte Mediziner, genauer gesagt Psychiater, von Wiglaf Droste als »Bluter« verhöhnt, am Ende nicht gewinnen; das einzige Literaturfernsehbild mit Erinnerungswert hatte er aber fabriziert. A Star was born. Es war der Beginn einer der ergiebigsten und schönsten schriftstellerischen Zeitgenossenschaften.

Im selben Jahr erschien Goetz’ Debütroman bei seinem ersten und einzigen Verlag, Suhrkamp: »Irre« die Geschichte des Psychiaters Raspe, benannt nach dem RAF-Mann, beruhend auf Goetz’ eigener Erfahrung in einer Münchener Klinik. Wie das Psychiatriesystem den Heiler selbst irre macht; wie Institutionen nicht zur Genesung der Schutzbefohlenen dienen, sondern ihre Leiden verstetigen, weil sich keiner des anderen annimmt, sondern ihn abfertigt, wurde mit einer in der deutschsprachigen Literatur einmaligen Wucht hier niedergeschrieben. Die Sprache war Bibel, Benn und Baader.  

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Goetz war als Student dieser Zeit Leser kritischer, marxistischer Theorie, klatschte sich so viele Gedanken, Argumente, die Wahrheit suchende Schreibverfahren wie nur geht hinter die noch nicht vernarbte Stirne. Er besuchte sehr gerne Vorträge von Karl Held, landete aber in keiner Gruppe, sondern verwandelte die Apodiktik dieser Schriften in eine strenge, aber individuelle Schreibarbeit im Dienst der Wahrheit und Aufklärung. Er gehörte auch zum Kreis des eher liberal veranlagten Essayisten Michael Rutschky, mit dem er später brach, dessen oftmals bittere Gelehrigkeit dem jungen Goetz aber sicherlich dabei half, die Gesellschaft nicht ausschließlich in vorgefertigten Kategorien wahrzunehmen, die ihrer Befreiung (rhetorisch) verpflichtet sind. Und dann war da Punk und die Lebensform »Wir saufen, bis Blut kommt«.

Es folgten die dunkle RAF-Fantasie »Kontrolliert«, die Berichtsammlung »Kronos«, Texte für das Theater, wo Goetz als Paradebeispiel postdramatischer Stücke gilt, gleichwohl frühe Einflüsse der magisch-anarchische bayerische Universalkünstler Herbert Achternbusch und der sozialkritische Schriftsteller Franz Xaver Kroetz waren, sodass sein frühes Bühnenwerk sich nicht in Meta-Gehampel ergeht, sondern auf Angriff gegen die deutschen Verhältnisse aus ist.

Die 90er Jahre veränderten bekanntlich fast alles. Goetz zog von München nach Berlin, in den Wedding, mit Sicht auf die Charité, und gab sich dem Rave hin sowie der Lektüre von Niklas Luhmann: Weiterhin alles verstehen wollen, aber nix bewegen müssen, weil alle auf der Love Parade marschieren. Dem Hedonismus zumindest in der Studienjugend Zugeneigte haben seine Erzählung »Rave« zu Hause; das Internettagebuch zur Jahrtausendwende »Abfall für alle« machte aus den Aufzeichnungen eines Jahres einen weiteren fetten Block Buch. Goetz befreundete sich mit den Techno-DJs Westbam und Sven Väth, stand in Clubs rum, notierte die neue Sprache des Fun im Dunkeln, entdeckte Ecstacy und ließ die Negativität der frühen Jahre ruhen.

Im Diskursdschungel lebte es sich heiter. Dass die Medienmanie an der Psyche zerrt und Berufscoole sich kaum um die Gesellschaft scheren, klingt ohne Moral trotzdem durch. Was im Osten abging, sah Goetz nicht. Zur DDR hatte er nichts Interessantes zu sagen. Goetz konnte aber das vergiftete Geschenk Marktwirtschaft – nach Erkundungen der Polit-Presse-Sphäre, Springer inklusive, welche sich die Berliner Republik hält – in einem fulminanten Buch auseinandernehmen.

Die (selbst-)mörderische Welt des höheren Managements, das Hamsterrad des Arbeitsalltags in blinder Profitgier war dann aber 2012 Gegenstand seines einzigen Romans auf Abstand, mit Figuren, ohne Goetz-Ich-Ansichten: »Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft« erkundet die Seelen, die versuchen, Mittelstand und größeres Kapital hierzulande am Laufen zu halten. Zum Teil spielt das in Gewerbeparks in Ostdeutschland. Und anderen Orten, die im Zweifelsfall auswechselbar sein sollen.

Dann war wieder Werkpause. 2015 kam die Verleihung des Büchner-Preises. Über das Bundesverdienstkreuz schweigen wir. Zuletzt gab es zwei Stücke, »Reich des Todes« (2021) und »Baracke« (2023), die sich zu weitläufiger politischer Komplexe annahmen, als dass sie hätten Dringlichkeit aufbauen können. Die Kritik blieb milde.

Rainald Goetz ist für nicht wenige seiner Fans – vermutlich überwiegend weiße Männer – eine Projektionsfläche, sodass man gerne prophetische Ansprüche an ihn stellt. Auch wenn gemunkelt wird, dass er mittlerweile regelmäßig in die (katholische) Kirche geht, ist diese Heilserwartung durch Schrift billig – auch wenn Goetz unvergleichlich belebend über das der Welt zugewandte Schreiben schriftlich nachdenken kann. Er bleibt einer der besten schriftstellerischen Zeitgenossen der letzten 40 Jahre. Wer seine Texte zur richtigen Zeit liest, jung und melancholisch oder etwas älter, aber nicht komplett frustriert, wird mit einer Energie beschenkt, die Kritik wie Liebe für diese Welt bereithält.

Am Freitag wird Rainald Gotz 70 Jahre alt. Danke für alles!

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