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Dokumentation »Einhundertvier«: Wo niemand hinschaut
»Einhundertvier« ist eine Echtzeitdokumentation über Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer
Das Sterben im Mittelmeer ist alltäglich geworden. Die Grenzen der Wahrnehmung haben sich – mit tatkräftiger Unterstützung der Politik – verschoben, und wenn es die Flüchtlinge überhaupt noch in die Nachrichten schaffen, muss es sich schon um ein gehöriges Drama handeln. Das war vor einigen Jahren noch anders, als eine Mehrheit in der Gesellschaft den Aktionen der Seenotretter ihren Respekt zollte und sie für ihre Zivilcourage gewürdigt wurden. Mit dem fortschreitenden Ausbau der Festung Europa sind Organisationen wie Seawatch oder Mission Lifeline in die Defensive geraten. Nicht nur wird ihre Arbeit zunehmend behindert und strafrechtlich verfolgt, auch der Wind im öffentlichen Diskurs hat sich gedreht. Das lässt sich gut am Programm der neuen Partei BSW erkennen, die trotz ihrer vermeintlich progressiven Ausrichtung das altbekannte »Das-Boot-ist-voll«-Narrativ bedient und die Migration bekämpfen will. Wenigstens thematisiert sie im Gegensatz zu den meisten anderen Parteien noch deren Ursachen.
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Menschen, die nicht regelmäßig linksorientierte Medien verfolgen, werden womöglich gar nicht wissen, dass die zivilen Seenotretter nach wie vor auf dem Mittelmeer unterwegs sind. Umso wichtiger, ja geradezu dringlich ist der Dokumentarfilm »Einhundertvier« des jungen Leipziger Regisseurs und Kameramanns Jonathan Schörnig, der 2023 auf dem Leipziger Dokfilmfest mit gleich vier Preisen geehrt wurde, darunter mit dem Hauptpreis, der »Goldenen Taube« für den besten Langfilm. Neben der Tatsache, dass die anhaltend skandalöse Situation der über das Mittelmeer Flüchtenden überhaupt wieder einmal thematisiert wird, füllt »Einhundertvier« eine Leerstelle, denn wie genau eine Seenotrettung eigentlich abläuft, entzieht sich weitgehend unserer Kenntnis. Bestenfalls kennen wir Bilder oder Nachrichtenclips, die das Geschehen in sendegerechter Form in 1:40 Minuten aufbereiten. »Einhundertvier« hingegen ist eine Echtzeitdokumentation, die zeigt, wie quälend lange es dauert und wie kompliziert es ist, 104 Menschen (daher der Filmtitel) von einem sinkenden Schlauchboot zu retten.
Die »Handlung« setzt ein, als die »Eleonore«, das Schiff der Mission Lifeline, ein schwimmendes Objekt in einiger Entfernung auf dem Meer sichtet und sein Beiboot dorthin schickt, um herauszufinden, ob es sich um Flüchtlinge handelt. Der Verdacht bestätigt sich, als das Boot sich einem Vehikel nähert, was einst ein Schlauchboot war, jedoch Luft verliert und sich mit bereits erschlafften Seitenwänden nur noch mühsam über Wasser hält. Erste Aufgabe der Rettungs-Crew wird es, Ruhe ins Geschehen zu bringen, um eine Panik und den sicheren Untergang des Gefährts zu verhindern.
Die Dramatik der Situation trifft auf die wohltuende Professionalität der Seenotretter, die mit eingeübter Routine und stets auf Eigensicherung bedacht, die Rettung der Schiffbrüchigen koordinieren und zunächst dafür sorgen, dass jeder eine Rettungsweste erhält. Auf dem Mutterschiff wird derweil die Aufnahme und Erstversorgung der 104 Menschen – ausschließlich junge Männer – vorbereitet. Der Zuschauer ist bei alldem hautnah dabei. Mehrere parallel laufende Kameras filmen das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven – die Leinwand wird hierfür in bis zu sechs einzelne Segmente unterteilt. Eine Filmmontage im klassischen Sinn gibt es nicht und wird ersetzt durch den Wechsel zwischen verschiedenen Kamerastandorten und Schauplätzen. Das bricht herkömmliche Sehgewohnheiten und macht es bisweilen anstrengend, allen Details zu folgen. Aber ein konventioneller Dokumentarfilm will »Einhundertvier« gar nicht sein und um schöne Bilder geht es ihm erst recht nicht. Die zum Teil fest montierten und statischen Kameras vermitteln eher die Anmutung von Überwachungskameras. Die Dramatik ergibt sich allein aus der Authentizität des Geschehens in Echtzeit.
Der Film begleitet die Aktion Mensch für Mensch, Schritt für Schritt. Die Lage spitzt sich zu, als die libysche Küstenwache auftaucht und versucht, die Rettungsaktion zu behindern. Immer wieder kommt deren Schiff den Flüchtenden auf dem Schlauchboot gefährlich nahe und verbreitet Angst und Schrecken. Der Sinn dieses aggressiven Verhaltens wird nicht recht klar, zumal sich die Beteiligten in internationalen Gewässern befinden. Aber wenn man weiß, dass die Libyer in europäischem Auftrag handeln und dafür bezahlt werden, Flüchtlinge aufzugreifen und zurückzuführen, sind die wütenden Drohgebärden angesichts der »Niederlage« – die Rettungsaktion können sie nicht mehr wirklich verhindern – dann doch nachvollziehbar. Anschließend müssen die Geretteten und die Crew noch tagelang auf hoher See ausharren, da kein europäisches Mittelmeerland ihnen erlaubt, anzulegen. Erst nach einem schlimmen Sturm gewährt ein Hafen ihnen notgedrungen Einlass.
Was sich anhört wie ein schlechter Abenteuerfilm, ist für die nach Europa Flüchtenden bittere Realität. Schlimmer noch: Jedes Jahr fordert die gefährlichste Fluchtroute der Welt Tausende von Menschenleben, aber kaum noch jemanden scheint es zu interessieren. Neben dem Gewöhnungs-, oder besser Abstumpfungseffekt hat sich der Fokus der Aufmerksamkeit schlicht verlagert, erst gen Ukraine, seit Neuestem Richtung Nahost. Es ist außerdem ein offenes Geheimnis, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex, statt Schiffbrüchigen zu helfen, illegale Pushbacks durchführt und Seenotrettungsmissionen wie Mission Lifeline massiv behindert, aber auch diese offenkundige Verletzung geltenden Rechts wird von den europäischen Regierungen stillschweigend hingenommen. Soviel zur wertebasierten Außenpolitik.
Die erfolgreiche europäische Abschottungspolitik schlägt sich auch in der immer seltener werdenden Berichterstattung der Medien nieder. Seit die EU Mittelmeer-Anrainer wie Libyen, Ägypten und die Türkei – allesamt mehr oder weniger autoritäre Regimes – gegen viel Geld verpflichtet hat, den Flüchtlingsstrom möglichst zu stoppen, spielt sich das Elend dort ab, wo niemand hinschaut und die Presse leichter im Zaum gehalten werden kann als in Europa. Dass es diesen Dokumentarfilm gibt, ist kein Widerspruch dazu, denn das Material stammt bereits von 2019, als die privaten Seenotretter noch vergleichsweise ungehindert arbeiten konnten. Inzwischen wären solche Aufnahmen wohl nur noch schwer möglich und werden die Rettungsmissionen konsequent kriminalisiert.
In eben jenem Jahr 2019 wurde auch gegen den Kapitän der »Eleonore« Anklage erhoben, da er am Ende der Rettungsfahrt und mit 104 Flüchtlingen auf dem völlig überfüllten Schiff ohne Erlaubnis – die ihm verweigert wurde – in einen italienischen Hafen einlief. Die Anklage wurde später fallengelassen, das Schiff allerdings beschlagnahmt; es ist seitdem nie wieder zu einer solchen Mission ausgelaufen.
»Einhundertvier«, R. Jonathan Schörnig, D 2023
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