»Er hatte eine enorme Empathie für menschliche Passionen«

Am 27. Mai jährt sich der Todestag Werner Tübkes zum 20. Mal. Der Kunstkritiker Eduard Beaucamp über seine jahrzehntelange Freundschaft mit dem Maler

  • Interview: Larissa Kunert
  • Lesedauer: 13 Min.
Werner Tübke hat bis an sein Lebensende gemalt. Hier sitzt er im Dezember 2003 in seiner Heimatstadt Leipzig vor einer Staffelei. Am 27. Mai 2004 starb er in Leipzig.
Werner Tübke hat bis an sein Lebensende gemalt. Hier sitzt er im Dezember 2003 in seiner Heimatstadt Leipzig vor einer Staffelei. Am 27. Mai 2004 starb er in Leipzig.

Herr Beaucamp, Sie haben schon darüber geschrieben, zum Beispiel im Sammelband »Werner Tübke. ›Wer bin ich?‹«, aber erzählen Sie doch noch einmal: Wie haben Sie Werner Tübke kennengelernt?

Ich traf Tübke das erste Mal während einer Dienstreise zur Leipziger Buchmesse im März 1968. Mein Visum galt für ein paar Tage. Nachdem ich die Messe besucht hatte, langweilte ich mich ein wenig – also streifte ich durch die Stadt und besuchte vor allem das Museum der Bildenden Künste, damals im alten Reichsgericht. Als ich mir dort unveröffentlichte Zeichnungen von Max Klinger ansehen wollte, hieß es, das könne nur der Direktor erlauben. So lernte ich Gerhard Winkler kennen. Er galt als linientreu. Ich selber hatte mit der politischen DDR nichts im Sinn, ja war nicht einmal Achtundsechziger. Ich diskutierte mit Winkler an diesem Tag lange über den herrschenden »Sozialistischen Realismus« und sagte unumwunden, dass ich alles, was ich davon bisher gesehen hatte, für undiskutabel und provinziell hielt. Winkler versprach mir daraufhin, mich noch während meines Aufenthalts mit jüngeren Künstlern bekanntzumachen, die noch nicht ausstellungsreif, aber für mich sicher sehr interessant sein könnten.

Interview

Eduard Beaucamp, geboren am 15. Juni 1937 in Aachen, war von 1966 bis zu seinem Ruhestand 2002 Feuilletonredakteur der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Als Kunstkritiker galt sein besonderes Interesse der DDR-Malerei, insbesondere der Leipziger Schule. Er hat zahlreiche Schriften veröffentlicht. Zuletzt erschien im Wallstein Verlag der Band »Jenseits der Avantgarden« (2022), der Essays der letzten 20 Jahre sowie drei Gespräche zur Kunst und zur eigenen Biografie versammelt.

Und einer davon war Tübke?

Richtig. Winkler hat mich zu Bernhard Heisig geführt, dessen dunkle Parterrewohnung sich vis-à-vis der Gewandhausruine befand, und zuallererst in die Hauptmannstraße 1, wo Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke damals lebten und arbeiteten. Als wir vor dem Haus standen, blieb Winkler übrigens draußen und sagte noch, wenn ich jetzt zuerst bei Tübke schellen würde, könnte ich danach nicht zu Mattheuer gehen – der wäre nicht gerne zweite Wahl, da hätte ich dann schlechte Karten. Mattheuer war aber ohnehin verreist. Jedenfalls stimmt die gerne verbreitete Erzählung, dass es sich bei Tübke, Mattheuer, Heisig und Willi Sitte um eine verschworene Gruppe gehandelt habe, absolut nicht. Die Künstler waren höchst gegensätzliche Naturen, ja rivalisierten miteinander.

Wie verlief dann Ihre Begegnung mit Tübke?

Er wirkte auf mich zuerst streng und distanziert, eher ironisch und skeptisch – auch sehr verletzlich. Wir konnten die gegenseitige Fremdheit aber schnell überwinden. Er trug den weißen Kittel eines Laboranten und ein usbekisches Käppchen, das er von seiner Samarkand-Reise mitgebracht hatte. Das Atelier war mit modernen Einbaumöbeln ausgestattet. Ich sah an diesem Tag keine weltbewegenden Bilder, aber einige Zeichnungen, die mich faszinierten. Tübke erwähnte damals mit verhaltenem Stolz, dass sein Name in einem westdeutschen Bundesanzeiger aufgetaucht war, bat mich aber ausdrücklich, ihn nicht in der »FAZ«, dem Zentralorgan des »Klassenfeindes«, zu erwähnen. Das würde ihm in seiner aktuellen Situation nur Schwierigkeiten machen. Ihm sollte in jenem Jahr wegen seiner hintergründigen Malerei, die ie den DDR-Obrigkeiten wohl gar nicht behagte, die Dozentur an der Leipziger Kunsthochschule gekündigt werden. Das wurde dann aber durch Proteste von Studenten verhindert. Eindringlich befragte er mich nach westlichen Künstlern, vor allem nach der raffinierten Maltechnik von Salvador Dalí. Leider blieb ich ihm da eine professionelle Antwort schuldig.

Aus dieser Begegnung hat sich dann eine jahrzehntelange Freundschaft entwickelt. Dabei war er nicht immer einverstanden, wenn es um die tiefere Deutung seiner Kunst ging.

Er war recht empfindlich, wenn man versuchte, sein Werk aus einer psychologischen Disposition und in Bezug auf seine Persönlichkeitsstruktur zu verstehen. Also wenn ich mich fragte, was wohl in ihm vorging und wie er dazu kam – zu seinem abenteuerlichen Schweifen durch die Vergangenheiten oder seinem enormen Feingefühl für so unterschiedliche Figuren wie Thomas Müntzer, Ignatius von Loyola oder Karl Marx, aber vor allem auch für alle möglichen Exzentriker, für die vulnerablen Randfiguren der Gesellschaft und der Geschichte, die seine Bilder und Blätter bevölkern. Er hatte eine unglaubliche Empathie für menschliche Passionen.

War er auch selbst ein solcher Exzentriker, ein Randmensch?

Das darf man so sehen. Er war ein totaler Einzelgänger, der sich mit einer DDR-Tarnkappe über seine lange, konfliktreiche Lebenszeit hinweg alle Freiheiten verschafft und sich komplett in seine unangepasste Kunst vertieft hat. Nur so konnten diese staunenswerten Meisterwerke, ja überhaupt das ganze Riesenwerk, das heute noch kaum im öffentlichen Bewusstsein angekommen ist, entstehen. Mich hat zum Beispiel zuallererst sehr bewegt, mit wie viel Einfühlungsvermögen und Detailbesessenheit Tübke die Opferfiguren im Zyklus »Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze«, seinem Zyklus über die Verbrechen des Nationalsozialismus, dargestellt hat. Die jüdischen Passionen stehen im Mittelpunkt und nicht, wie von der Obrigkeit erwartet, die politischen Opfer. Die Syntax der einzelnen Bilder dieses Zyklus und ihr Zusammenhang sind sehr kompliziert, die Bildsprache teils drastisch-realistisch, teils allegorisch. Bei manchen Studien kann man die Torturen förmlich nachvollziehen. Die Darstellungen von körperlichem Schmerz und Leid, aber auch seelischer Verletzungen und Psychosen sind eine Spezialität von Tübkes Kunst. Dass übrigens die dritte Fassung des Zyklus, die Hauptfassung, von der Berliner Nationalgalerie seit Jahrzehnten im Depot versteckt wird, macht mich fassungslos.

Hatte seine Sensibilität für physischen und psychischen Schmerz auch biografische Gründe?

Sicherlich. Er war – 1929 geboren – noch Schüler, als der Zweite Weltkrieg in seine letzte Phase eintrat. Damals, 1945, wurde in seiner Heimatstadt Schönebeck an der Elbe ein Sowjetsoldat von Mitgliedern der Organisation Werwolf aus dem Hinterhalt erschossen. Die »Werwölfe« waren ja Hitlers letztes Aufgebot gegen die Alliierten, unter ihnen viele völlig fanatisierte und verblendete Jugendliche. Nach den Tätern fahndeten die Sowjets in Tübkes Schule. Als sich dort niemand freiwillig stellte, nahmen sie einfach jeden Zehnten mit, unter ihnen auch Tübke. Er war dann ein dreiviertel Jahr inhaftiert, und es ist dokumentiert, dass er anfangs durch Wasserstehen und Prügelstrafe auch gefoltert wurde. Diese Erfahrung hat sich lebenslang in Tübkes Werk tief eingeprägt. Doch hat er die Praxis der Sowjets nie mit der der Nationalsozialisten gleichgesetzt.

Wie stand Tübke Ihrer Beobachtung nach zum DDR-Regime?

Das ist für mich schwer zu beantworten. Er ist schon früh nach dem Krieg in die SED eingetreten – für mich nachvollziehbar, denn nach dem Desaster des Nationalsozialismus verband man mit dem Sozialismus ja die Hoffnung auf etwas völlig Neues, Besseres, Humanes. Allerdings war der Kollektivismus wider seine Natur. So hat er sich in der DDR mit der DDR quer zur DDR entwickelt. Er verhielt sich teilweise fast aristokratisch. Seine Hochbegabung wurde früh respektiert. Er erkämpfte sich zweifellos Sonderrollen. Dass er ziemlich viele prominente Händler und Sammler in Italien, Frankreich, den USA und in der Bundesrepublik hatte, war nicht SED-gesteuert, sondern der Bewunderung im Ausland zu verdanken. Die DDR profitierte durch Devisen. Tübke hat ein gigantisches Werk hinterlassen, für das es in der Kunstgeschichte kaum Parallelen gibt. Das riesige Bauernkriegspanorama hat er zu großen Teilen alleine geschaffen und darüber zeitweise seine Malerhand ruiniert. Tübke hatte zwar 15 Assistenten trainiert, doch den meisten gelang es seiner Ansicht nach nicht, Stil und Duktus seiner Vision auf die Leinwand zu übertragen. Am Ende hatte er nur noch einen Gehilfen. So hat er zwei Drittel der Fläche selbst gemalt. Das waren mehr als 1000 Quadratmeter.

Warum konnte sich Tübke, denken Sie, so ein eigenwilliges Verhalten erlauben?

Er besaß natürlich einzigartige Qualitäten als Maler, aber auch ein erstaunliches taktisches Geschick, mit dem er Funktionäre und Behörden vielfach ausmanövriert hat. Seine Frau Brigitte, eine Juristin, stand ihm dabei zur Seite. In Bad Frankenhausen kann man heute in einer Vitrine den Vertrag zum Bauernkriegspanorama studieren. Da sind etwa zwölf Punkte festgehalten, und einer lautet ungefähr so: »Wenn man mir hier reinredet, lege ich den Pinsel nieder.« Das wollte der Staat sicherlich nicht riskieren, nachdem er schon sehr viel Aufwand und Geld in dieses monumentale Kunstwerk gesteckt hatte. Wenn es als Fragment stehen geblieben wäre, hätte der Westen hohngelacht. Dass Tübke sich im Frankenhausener Panorama alle Agitation und Didaktik verbat, sollte Propaganda abwehren, kam dem Regime aber auch entgegen, denke ich. So musste die Frage, was daran überhaupt sozialistisch sei, gar nicht beantwortet werden.

Die von 1976 bis 1987 entstandene Malerei, die zentral die Entscheidungsschlacht des Deutschen Bauernkriegs von 1525 darstellt, ist ja auch gar nicht einfach zu interpretieren. Sie wirkt in Teilen eher kosmisch, apokalyptisch.

Das Faszinierende – und für viele Merkwürdige – an Tübke war, dass er nicht ganz von dieser Welt war und in ihr lebte. Ein Phänomen wie der Surrealismus schließt als historische Schule Tübke in seiner historischen Bedeutung natürlich nicht ein, aber im Grunde war seine Kunst genau das: sur-real. Er ist von der Wirklichkeit ausgegangen und von ihr durchdrungen, ihre Elemente sind in seiner Malerei auch erkennbar, aber in andere Kontexte und Sinnzusammenhänge überführt. Das Ganze gleitet recht schnell in eine Nicht- oder Überwirklichkeit hinüber – ins Fantastische, vielfach auch Transzendente, manchmal auch Groteske und Absurde. Er versuchte gleichsam, alles aus einer Innensicht zu betrachten und aus solcher Durchdringung darzustellen. Bernhard Heisig hat einmal über Tübke gemutmaßt: »Der würde auch Goebbels porträtieren!« Das hat Tübke nie gemacht, aber den Teufel Goebbels seelisch und geistig zu ergründen und zur erforschen, hätte ihn schon interessieren können, denke ich. Genauso wie Ignatius von Loyola, den Mitgründer des Jesuitenordens, den er einmal gezeichnet hat – und der als Gegenreformator sicherlich keine unbedingt progressive Figur der Geschichte war. In Tübkes Zeichnungen wimmelt es übrigens von Dämonen, Todesengeln, finsterem Personal. Seine Motivik ist also keinesfalls nazarenisch, in seinem Menschenzoo geht es wüst zu.

Dagegen sieht »Arbeiterklasse und Intelligenz« (1970–1973), das große Gemälde Tübkes, das im Auftrag der Leipziger Uni entstand und Studenten, Professoren, Bauarbeiter und einige SED-Politiker zeigt, doch ziemlich realistisch aus – und propagandistisch.

Dissident war Tübke sicherlich nicht. Aber er war auch kein Propagandist des Regimes, sondern etwas dazwischen. Er hat mit großer Finesse immer die Oberhand behalten, auch bei »Arbeiterklasse und Intelligenz«. Natürlich gibt es auf dem Bild diese kleine Gruppe von SED-Funktionären als Auftraggeber. Als das Gemälde 2009 wieder in der Leipziger Uni etabliert wurde, hat sich daran ja auch heftiger Streit entzündet. Aber wenn man Augen hat, dann sieht man doch, dass es hier nicht im Geringsten um Propaganda geht!

Wie meinen Sie das?

Im Vordergrund des Bildes tummeln sich junge Leute, und sie gehorchen nicht, sondern diskutieren als Studenten miteinander. Tübke hat ein frühes Computerzentrum gemalt – das erste Mal in der Kunstgeschichte taucht hier so was in einem Gemälde auf – ein alter, hoch beliebter Professor, um den sich die Jungen scharen, ein tanzendes Mädchen, das das Scharnier der ganzen Wandbildkomposition ist. Die Professoren, Politiker und Funktionäre sind eher in den Hintergrund gerückt, spielen keine große Rolle. Aber all das muss man lesen können! Für mich ist das Bild vor allem einfach unglaublich schöne Malerei. Es gab einmal eine Podiumsdiskussion im Leipziger Bildermuseum. Erich Loest, der das Bild hasste, wollte es für fünfzig Jahre in der Versenkung verschwinden lassen. Ich war so frech zu sagen, es sei für mich das schönste Bild, das nach 1945 in Deutschland gemalt worden sei.

Die Malerei ist sicherlich auch von Alten Meistern inspiriert, nehme ich an.

Als Tübke das Bild angefertigt hat, war er gerade von seiner ersten Italien-Reise zurückgekommen. In Siena gibt es im alten Rathaus ein Fresko von Ambrogio Lorenzetti, das Wirkungen einer »guten« und einer »schlechten« Regierung darstellt. Das nahm sich Tübke zum Vorbild. Damit verband sich, glaube ich, auch seine Hoffnung, dass sich in der DDR eine solche »gute Regierung«, die auf Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und auch Schönheit basiert, entwickeln würde. Humanisierung durch Kunst sozusagen. Das war leider ein Trugschluss.

Waren Sie eigentlich damals der einzige Kritiker aus dem Westen, der sich für Ostmalerei interessierte?

Das kann man fast so sagen. Es gab noch ein paar jüngere Kollegen, die da halb überzeugt mitmachten, aber wirklich geschrieben hat darüber kaum jemand. Ausnahmen bildeten Karin Thomas oder Peter Sager.

Tübkes Gemälde »Frühbürgerliche Revolution in Deutschland«, meist Bauernkriegspanorama genannt, ist mit 1722 m² Fläche eines der größten der Welt. Hier ist nur ein Ausschnitt zu sehen, im Vordergrund Besucher.
Tübkes Gemälde »Frühbürgerliche Revolution in Deutschland«, meist Bauernkriegspanorama genannt, ist mit 1722 m² Fläche eines der größten der Welt. Hier ist nur ein Ausschnitt zu sehen, im Vordergrund Besucher.

Warum, denken Sie, war das so?

Die Deutschen waren nach dem Nationalsozialismus unsicher und erfahrungsgestört. In der BRD-Kunstszene wollte man an die hochfliegenden 20er Jahre anknüpfen und schaute erst nach Paris, ab den 60er Jahren nach New York. Man wollte nur eine ganz bestimmte Kunst gelten lassen. Wir haben gedacht, dass diese Moderne der einzige Weg und die Wahrheit ist, alles andere sei unrein. Das ist natürlich der größte Unfug gewesen. Man hat zum Beispiel die Abstraktion bis zur Concept Art getrieben und ist dann in die eigene Falle getappt. Es war ein Weg ohne Umkehr. Jetzt geht es mit dem hochgemuten Moderne-Projekt nicht weiter.

Wenn man konzeptuell arbeitet, gibt es auch nur begrenzt Mittel, um etwas zu erzählen.

Sicher. Wenn man nur zwei Stichworte an die Wand heftet und damit Denkanstöße geben will, ist das anmaßend und langweilig, eine Totgeburt. Wir haben in der Nachkriegszeit völlig übersehen, dass es auch einen ganz anderen Weg der Moderne gab. Nicht nur in der DDR und in Osteuropa, sondern auch im Süden, in Italien, Spanien und Frankreich zum Beispiel, wo es überall eine starke gesellschaftliche, meist sozialistische Bewegung gab. Dazu gehören Léger und Guttuso, zum Teil sogar Picasso. Nicht zu vergessen die mexikanischen Muralisten, aber auch Südstaaten-Amerikaner, Künstler wie etwa Ben Shahn, der frühe Rothko, die jetzt alle wiederentdeckt werden. In diesen Stammbaum gehören auch die Ostdeutschen. Das hat man in der Bundesrepublik nicht wahrnehmen wollen.

Und wie ist es heute?

Meines Wissens wird in der Dauerausstellung der Neuen Nationalgalerie in Berlin kein einziges Werk von Tübke oder Heisig gezeigt. Das ist schon unfassbar. Die gehören zentral in die nationale Kunstgeschichte. Eigentlich müsste man die Diskussion darüber noch einmal neu aufrollen, aber die Kunstkritik ist, was das angeht, heute ziemlich enttäuschend. Eine substantielle öffentliche Diskussion über Kunst und Ästhetik findet doch praktisch nicht mehr statt! Übrigens bin ich auch von unseren Kunsthistorikern enttäuscht: Sie haben ihr Leben lang über Kirchen- und Hofkunst, über Rubens, Vélazquez und Goya geschrieben. Dann tritt die gleiche prekäre Auftragskunst-Situation in der Gegenwart auf, und man kapituliert und schweigt. Wenn vielleicht die ersten zehn Jahre nach der Wende eine Schreckzeit waren, in der man sich noch nicht traute, verstehe ich das. Aber Schweigen und Feindseligkeit dauern nun über dreißig Jahre an!

Im Dresdner Albertinum läuft gerade die Ausstellung »Revolutionary Romances? Globale Kunstgeschichten in der DDR«. Da werden auch Kunstwerke aus der DDR gezeigt, die zuvor noch nie der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Das Interesse an Ostkunst scheint gerade zumindest ein bisschen angestiegen zu sein.

Man muss sich jetzt ja auch etwas Neues einfallen lassen, da die Westkunst in Wiederholungsspiralen steckt. Übrigens denkt das MoMA (Museum of Modern Art) in New York gerade völlig um. Das war immer der unfehlbare Vatikan und das Leitbild auch für deutsche Institutionen. Die Amerikaner entdecken und bewerten zur Zeit ihre Südstaaten, Mittelamerika und Südamerika neu. Im New Yorker Metropolitan Museum of Art wird gerade die Harlem Renaissance, die Kunst der Schwarzen, ausgestellt und auf Verbindungen zur europäischen Moderne untersucht. Die Harlem Renaissance war ja die erste von Schwarzen angeführte modernistische Bewegung. Da ist man auch lange einfach drüber hinweggegangen.

Nun ist man offenbar darauf aufmerksam geworden, weil es in der Politik vermehrt Forderungen nach der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte gibt.

Ja, aber diese Entwicklungen vollziehen sich immer so langsam! Man sagt immer, dass es in der Kunst schnellgehe – überhaupt nicht. Die Kunstszene ist träge wie ein Lavastrom. Auch unsere ostdeutsche Kunst wird noch ihre Zukunft haben!

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