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Carola Rackete: Teil der Graswurzelbewegung
Carola Rackete setzt im EU-Wahlkampf Prioritäten. Sie sucht den Austausch mit der kleinbäuerlichen Landwirtschaft
Carola Rackete ist auf dem Land aufgewachsen, in Niedersachsen unweit von Celle. Sie kennt das, wenn der Bus nur unregelmäßig fährt. Nach Eichenberg kommt die Spitzenkandidatin der Linken für die Europawahl mit der Regionalbahn. Sie besucht im nordhessischen Bergland kleinbäuerliche Höfe und die ehemalige Ackerbesetzung in Neu-Eichenberg, bei der sich ein überwiegend lokaler Widerstand erfolgreich gegen die Versiegelung von 80 Hektar Fläche für ein Logistikgebiet gewehrt hat.
Man merkt es sofort, Rackete möchte bei ihrem Besuch nicht im Mittelpunkt stehen. Nicht, weil ihr die Bühne unangenehm ist, sonst hätte sie sich als Parteilose nicht auf den aussichtsreichen Listenplatz 2 der Linken setzen lassen, um in zwei Wochen ins EU-Parlament gewählt zu werden. Sondern, weil sie keine abgehobene Politikerin sein will. Beim Höhberg-Kollektiv, einer solidarischen Landwirtschaft in Oberrieden, kommen bei ihrem Besuch rund zwanzig Personen zusammen. Alle stellen sich vor. Manche helfen beim Gemüsebau oder kommen von befreundeten Höfen, andere engagieren sich bei der Linkspartei, einer ist frei wirkender Philosoph. Rackete ist eine von ihnen. Für sie hat diese Graswurzelbewegung eine besondere Bedeutung. »Wir müssen uns zivilgesellschaftlich organisieren«, sagt die ausgebildete Ökologin, weil sich daraus Möglichkeiten zur politischen Veränderung ergäben. Eine Nähe zu ihrer links-alternativen Basis, den sie bei ihrem Besuch demonstriert, möchte sie auch im EU-Parlament pflegen.
Im Juni wird in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union über ein neues EU-Parlament abgestimmt. Dabei zeichnet sich ab, dass rechte Parteien an Einfluss gewinnen könnten. Was ist eine linke Antwort darauf? Und wie steht es um die Klimapolitik der EU? Welche Entwicklungen gibt es in Hinblick auf Sozialpolitik und was ist im Bereich der europäischen Asyl- und Migrationpolitik zu erwarten? Die anstehende Europawahl wird richtungsweisend. Auf unserer Themenseite fassen wir die Entwicklungen zusammen: dasnd.de/europawahl
Ihre Nominierung als Spitzenkandidatin im vergangenen Juli gilt als Zeichen einer Neuausrichtung der Partei, wenngleich ihre Nähe zur Bewegungslinken auch umstritten war. Ein »Wählerschreck« sei Rackete, sagte der ehemalige Parteivorsitzende Klaus Ernst. Inzwischen hat der die Linke verlassen und sich dem Bündnis Sahra Wagenknecht angeschlossen.
Aber Rackete hat auch Bekanntheit erlangt. Der »Spiegel« nennt sie »eine Heldin der Linken«. Als Freiwillige war sie vor fünf Jahren Kapitänin auf dem Seenotrettungsschiff »Sea Watch 3« und harrte mit 40 geretteten Flüchtlingen an Bord wochenlang vor Lampedusa aus, weil ihr die Einfahrt in den Hafen untersagt wurde. Sie widersetzte sich dem Verbot, berief sich auf das Nothafenrecht und setzte die Geretteten ab. Damit bot sie der italienischen Rechten um den damaligen Innenminister Matteo Salvini die Stirn. Das sorgte international für Schlagzeilen. Für ihren Mut zur Menschlichkeit wurde sie später mehrmals geehrt.
Darauf, was in Lampedusa geschah, will sich die 36-Jährige aber nicht reduzieren lassen. Im Europaparlament werde sie nicht zur Migrationspolitik arbeiten, betont sie auch in Nordhessen. »Eigentlich habe ich davon gar nicht viel Ahnung.« Rackete ist Ökologin und war auf Forschungsreisen mehrmals in der Antarktis. Wenn sie ins Europaparlament gewählt werden sollte, wolle sie sich vor allem um den Umweltschutz und die Agrarpolitik kümmern. Während der Höfetour sucht sie deshalb den Austausch mit den Expertinnen und Experten aus der Praxis und diskutiert über die Vermarktung der Produkte der solidarischen Landwirtschaft oder über die Gefahr von gentechnisch veränderten Pflanzen. Aktuell gibt es in der EU einen neuen Vorstoß für eine Deregulierung der Technik – beispielsweise soll die sogenannte Genschere zugelassen werden, die Teile der DNA einer Pflanze verändert. Stefi Clar vom Samenbaubetrieb Dreschflegel sieht darin eine enorme Bedrohung für die gesamte Umwelt und mahnt eindringlich vor dem Einsatz manipulierter Pflanzen.
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Rackete ist sich zwar sicher, dass eine Mehrheit in der Bevölkerung der EU Gentechnik nach wie vor ablehnt, »aber die Konzerne dringen dennoch auf Entscheidungen zu ihren Gunsten«. Gegen diese Einflussnahme will sich Rackete in Brüssel und Straßburg einsetzen. »Die Landwirtschaft ist ein großes linkes Thema. Es geht nicht nur um Subventionen, sondern auch um Lobbyismus. Und diese Einflussnahme der Konzerne muss reguliert werden.«
Bevor sie sich für die Kandidatur entschieden hat, tauschte sie sich mit Nico Semsrott aus, der für Die Partei den Weg ins EU-Parlament gewählt worden war und inzwischen desillusioniert von der »Kompromissmaschine« ist. Die Gesellschaft sei viel weiter als das politische System, sagt er. Rackete hat sich trotzdem für eine Kandidatur entschieden. Angetrieben wird sie von der hereinbrechenden Klimakrise, welche »die Menschheit in eine noch nie dagewesene Situation bringt«. »Handeln statt hoffen«, lautet der Titel ihres Buches über den Klimawandel, das 2019 erschienen ist. Und das ist auch das Motto für ihren Einstieg in die Politik.
Utopien habe sie keine, sagt sie am Abend auf einer Podiumsdiskussion in Witzenhausen – verspricht aber, sich angesichts der existenziellen Bedrohung für eine sozial gerechte Klimapolitik einzusetzen. Umweltschutz sieht Rackete immer zusammen mit einer ungleichen Verteilung von Reichtum. Dem setzt sie die Idee einer »Krisenvermögensabgabe« entgegen, wonach Menschen, die mehr als zwei Millionen Euro netto verdienen, zehn Prozent ihres Einkommens an die Allgemeinheit abgeben sollen. Viel Applaus erhält sie für diesen Vorschlag. Wirkte Rackete am Nachmittag bei der Höfebesichtigung noch geradezu zurückhaltend, so hat sie jetzt in den Wahlkampfmodus geschaltet. Die Mittel müssten in eine »sozial gerechte Transformation« gehen. »Wir müssen umverteilen«, erklärt sie. »Nur dann haben wir eine Chance, in der Klimakrise zu bestehen.«
Hinter ihr ein Wahlplakat mit ihrem Konterfei und der Forderung: »Kostenloser ÖPNV für alle statt Privatjets für wenige!« Natürlich ist das utopisch. Dann muss sie los zum Zug, der Richtung Kassel einmal in der Stunde fährt. Immer um 37.
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