Als Texte auf Deutsch nicht mehr peinlich waren

Die Doku »Hamburger Schule« erkundet die einflussreichste Richtung hiesiger Popmusik seit Kraftwerk

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Ach herrje. Die Diskursanalyse ist doch schwerer als gedacht.
Ach herrje. Die Diskursanalyse ist doch schwerer als gedacht.

Die Pfade deutschsprachiger Musik sind seit jeher Highways to Hell. Vom erdigen Volkslied über die feudale Klassik, debile Kaiserzeitoperetten oder das Horst-Wessel-Lied, ging germanisches Gesangsgut so kalkuliert Richtung NDW, Eurodance, Helene Fischer, dass Ausfahrten in abseitigere Regionen meist nicht mal richtig ausgeschildert waren. Eine davon klingt denn auch mehr nach Zwang als Genre: Hamburger Schule.

Kreiert 1991 vom »Taz«-Kritiker Thomas Groß, beschreibt der Kunstbegriff ein ortsgebundenes Sammelbecken, in dem drei, vier Jungs an vier, fünf Instrumenten wenig mehr verbunden hat als Sprache, Haltung, Gestus und das, was Natascha Geier in ihrer Dokumentation »eine Bewegung« nennt. »Ein Lebensgefühl«, um alles anders zu machen als alle anderen im heimischen Rock zuvor. Tocotronic zum Beispiel.

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Relativ spät, also nach den Vorschulbands Blumeld, Die Sterne, Huah! oder Kolossale Jugend hinzugekommen, war das Trio um den Freiburger Dirk von Lowtzow rasch so bedeutend, dass ihr Album »Nach der verlorenen Zeit« 1995 die Hymne dieser Lebensgefühlsbewegung enthielt:

Ich bin neu in der Hamburger Schule
Und ich kenn mich noch nicht so gut aus
Ich bin grade in die erste Klasse gekomm’
Und ich weiß noch nichts genau

Das aber, zeigt Geiers Nabelschau des einflussreichsten deutschen Musikstils seit Kraftwerk und Krautrock, galt für die ganze Gattung. Entstanden im Mauerfallfiebertraum aus Ernüchterung über NDW, Hedonismus und Wende plus Angst vor Krieg, Aids und Rechtsruck, richtete sich der distinguierte Punkableger gegen das, was die beteiligte Malerei-Ikone Daniel Richter im Film »Kommerz, Mainstream, auch den politischen« nennt. Zugleich existierten jedoch kaum Gemeinsamkeiten abseits vom Text, dem weder Deutsch noch Poesie peinlich war.

Ich bin neu in der Hamburger Schule
Und bin grade erst weg von zuhaus’
Die Lehrer sind alle ganz nett hier
Und die meisten meiner Mitschüler auch

Wie in jeder Bildungseinrichtung gab es Wortführer und Außenseiter, Kuschelpädagogen und Frontalunterricht. Trotz aller Differenzen aber waren zwei Aspekte vorheriger Epochen tabu: »Folk und Romantik«, wie es Sterne-Sänger Frank Spilker ausdrückt. Damit prägte die Hamburger Schule bei aller Dissonanz nicht nur den Sound der gesellschaftlichen Aufbruchsjahre in sorglose Zeiten; sie begann auch, die Popkultur diskursiv, also politisch aufzuladen.

Ich bin neu in der Hamburger Schule
Und es gefällt mir hier eigentlich ganz gut

Die Klassenzimmer sind angenehm dunkel
Es gibt Bier als Pausenbrot

So ist »Die Hamburger Schule« auch ein Streifzug durchs womöglich letzte Aufbegehren der Subkultur gegen Gentrifizierung, Mainstream und Verwertungslogik. Aufgetreten wurde in Clublegenden wie Goldener Pudel, Komet, Heinz Karmers, wo die Doku noch mal in Nostalgie schwelgen darf. Kurz zumindest. Denn wie so oft hat auch diese Revolution ihre Kinder gefressen. Und schon wieder taugen Tocotronic dafür als (warnendes) Beispiel.

Ich bin neu in der Hamburger Schule
Und lern kein Griechisch und kein Latein

Und trotzdem scheint mir die Hamburger Schule
’Ne Eliteschule zu sein

Im zweiten Teil der Doku, wo parallel zum Aufstieg von Viva und Love Parade das entsteht, was Myriam Brügger vom Label L’Age D’Or als »Schlagerwendung« bezeichnet, zeigen sich nämlich die Sollbruchstellen: eklatanter Mangel an Frauen und ebenso eklatantes Übermaß an Selbstgefälligkeit bis hin zur Arroganz. Die tollste Szene ist jene, als Dirk von Lowtzow Wortungetüme wie »heterotrop« oder »Epiphanie« absondert und sein Bassist Jan Müller fast mitleidig lächelt.

Ich bin neu in der Hamburger Schule
Und vielleicht komme ich hier nie wieder raus
Vielleicht werde ich nie meinen Abschluss machen
Denn hier gibt es ja immer Applaus

Den gibt es – auch wenn das Hamburger Schultor längst verriegelt ist – weiterhin. Tocotronic mögen allerdings Mehrzweckhallen füllen; für ihre Wegbegleiterin Christine Rösinger von den Berliner Lassie Singers aber sind sie »schuld an AnnenMaiKantereit oder Bosse«. Natascha Geiers Film lässt trotzdem keinen Zweifel daran, dass die Hamburger Schule Spuren bis in Kunst und Literatur hinterlassen hat. Sie hier zu sehen, hören, fühlen hätte mehr verdient als zweimal 30 Minuten in der ARD-Mediathek.

Verfügbar in der ARD-Mediathek

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