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Tod von Thomas Heise: Der Künstler als Rivale

Der Filmemacher Thomas Heise ist gestorben

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Regisseur Thomas Heise spricht auf einem Film-Festival in Shanghai.
Der Regisseur Thomas Heise spricht auf einem Film-Festival in Shanghai.

Für Thomas Heise war alles Material für seine Filme, auch das, woran andere achtlos vorbeigingen. »Material« hieß dann folgerichtig die Kompilation aus zwölf Filmen, die zwischen 1988 und 2008 entstanden und 2009 auf der Berlinale uraufgeführt wurde. Ein stundenlanger spröder Bilderfluss, gänzlich kommentarfrei komponiert. Da sah man Heiner Müller bei Proben im Theater, hörte SED-Politbüromitglied Günter Schabowski mit heiserer Stimme für den Führungsanspruch der Partei streiten, als das Volk sich doch schon selbstbewusst am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz versammelte, um gegen die Zensur, für Versammlungs- und Pressefreiheit zu streiten, wie es in der DDR-Verfassung festgeschrieben war.

Thomas Heise war überall dabei, filmte – als stummer Zeuge – die lange Reihe von Rednern, indem er sich, die Kamera in Händen, schräg über der Tribüne festband (um nicht herabzustürzen oder heruntergezogen zu werden). Aber mehr noch als die Redner interessierten ihn die vielen Zuhörer auf dem Alexanderplatz. Legendär wurden seine Filme »Das Haus« über das Bezirksamt Berlin-Mitte oder auch »Volkspolizei« von 1985, als er in eine Polizei-Dienststelle ging und den Alltag dort dokumentierte.

Viele Stunden hörte er nach 1990 rechtsextremen Jugendlichen im Osten zu, dokumentierte dies in »Stau – Jetzt geht’s los« von 1992, aber urteilte nicht. Wenn er etwas aus tiefster Seele verachtete, dann war dies Agitation, die Selbstfeier der Selbstgerechten. Das Urteil des Zuschauers darf man nicht lenken wollen.

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Thomas Heise war ein Extremist, nicht nur ein bekennender Außenseiter, sondern auch – eine Zeit lang jedenfalls – ein geradezu gewalttätig Suchender. Von langen Erklärungen hielt er wenig, von moderaten Rücksichtnahmen gar nichts. Mit ihm ist nun eines jener Kinder des Ostens gestorben, die sich in radikaler Opposition an ihrem Land abarbeiteten. Thomas Heise blickte immer von innen, nie von außen auf den Krisenfall DDR, den er als Störfall für bundesdeutsche Selbstfeier dann durchaus schätzen konnte.

Geboren 1955 in Berlin als Sohn des Philosophen Wolfgang Heise und der Literatur-Redakteurin, Voltaire-Übersetzerin und Walter-Benjamin-Herausgeberin Rosemarie Heise, waren er und sein Bruder Andreas von Anfang an umgeben von der strengen Klarheit jenes hohen ideellen Anspruchs, der die Eltern verband.

Diese lebten in einer eigenen geistigen Welt und die Söhne eroberten sich auf handfeste Weise einen Platz darin. Die Staatssicherheit notierte: »Die Kinder traten als Initiatoren jugendlicher Banden in Erscheinung.« Nicht verführte Mitläufer, sondern Initiatoren! Das schrie nach Maßreglung, nach Gefängnis. Im Nachhinein wusste Thomas Heise: Es war im Grunde ein Schrei der vernachlässigten Kinderseele nach Liebe. Und tatsächlich, die Heises verleugneten ihre auf Kollisionskurs befindlichen Söhne nicht.

Das Band der Generationen hielt. Darüber drehte Thomas Heise 2019 seinen letzten großen Film »Heimat ist ein Raum aus Zeit«, eine fast vierstündige Meditation über drei Generationen seiner deutsch-jüdischen Familie – und zugleich eine kompromisslose Geschichtsstunde. Inzwischen war auch der bekennende Außenseiter zum Vorzeigedokumentaristen geworden, Professor an mehreren Filmhochschulen, auch Direktor der Sektion Film- und Medienkunst der Berliner Akademie der Künste. Nun wusste er, in welchen Zwängen der Vater gesteckt hatte: Als Repräsentant dennoch immer wieder schöpferisch zu werden.

Um den Vater kreiste er ständig. Der sonst egozentrisch alles um sich herum geringschätzende Wolf Biermann nannte Wolfgang Heise ehrfurchtsvoll »DDR-Voltaire«. Aber sein grandioses Hauptwerk »Hölderlin – Schönheit und Geschichte«, das 1988 erschien, ein Jahr nach seinem plötzlichen Tod, zeigt auch den staatstragenden Hegelianer, den Romantikverächter. Und Thomas Heise trug diesen Widerspruch in sich auf besondere Weise aus: Er wählte Heiner Müller, den radikalen Spätromantiker, zu seinem zweiten Vater. Es gelang ihm sogar, Wolfgang Heise und Heiner Müller zu einem Gespräch zusammenzubringen. Und da saßen sie dann eher verlegen, Thomas Heise zu Gefallen, zwei in ihrem Weltverständnis einander fremde Meisterdenker, und redeten hoffnungslos aneinander vorbei.

Mit »Heimat ist ein Raum aus Zeit« hat Thomas Heise sich als Philosoph der Bilder erwiesen – und dabei gezeigt, dass seine Bildsprache höchst präzise war. Da will jemand wissen, warum er so geworden ist, wie er wurde. Warum er renitente Schutzwälle aus Skepsis um sich herum baute. Hier liest er selbst im Off Tagebücher, Briefe, Dokumente, von denen viele erst nach dem Tod der Mutter 2014 in seine Hände kamen. Manches an anarchistischer Kraft in diesen frühen Dokumenten überraschte den Sohn. Als im gleichen Jahr auch sein Bruder starb, war es an ihm, den Weg der Familie durch ein mörderisches Jahrhundert nachzuvollziehen.

Er tat dies mit allem Selbsterkenntnisfuror, der weite Umwege zu gehen bereit ist. Alle seine späten Filme sind Hochkonzentrationsräume, die entschlüsselt werden wollen. Da wird viel zornige Schwermut spürbar: Der Großvater wird von den Nazis aus dem Schuldienst entlassen und der Vater sitzt in einem Zwangsarbeitslager für »jüdische Mischlinge«, weil er »wehrunwürdig« ist. Von dort schreibt der neunzehnjährige Wolfgang Heise an seinen Vater, den Großvater von Thomas Heise: »Es ist das Kommende in allem Sein, das uns alle betrifft, so ungewiss.« Geschichte bedeutet Verheißung und Bedrohung zugleich, birgt die Möglichkeit von Rettung wie auch von Vernichtung.

Darin, dies den politisch Mächtigen als Ratgeber immer wieder zu bedenken zu geben, sah der Vater seine spätere Aufgabe – die dem radikalen Sohn anfangs opportunistisch erschien. Später wusste er dann, was es heißt, sich denkend in das Räderwerk widerstreitender Interessen zu begeben.

Der Tod traf Thomas Heise am 29. Mai, nach kurzer schwerer Krankheit, wie es heißt. Als Thema war er Heise nicht fremd, hatte doch Heiner Müller alle Utopie immer nur vom Grabe her denken wollen. Müllers Lebenscredo wurde auch das von Thomas Heise: »Der Künstler ist nicht jemand, der die Welt transkribiert – er ist ihr Rivale.«

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