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- Ezzes von Estis
Abi gesint (II)
Eigentlich ist es nicht so schlecht, krank zu sein. Man hat dann immerhin nur eine Sorge: die Krankheit
Nur gesund ist man glücklich, denn wer krank ist, dem macht nichts mehr eine Freude. Und das, obwohl wer krank ist, weniger Sorgen hat, denn es heißt: As der mentsch is gesint, hot er tojsent dajes, as er vert krank, hot er ejn daje. (»Wenn der Mensch gesund ist, hat er tausend Sorgen, wenn er krank wird, hat er eine Sorge.«)
Ja, wer krank ist, dem macht nichts mehr eine Freude. Wer gesund ist, dem macht auch nichts eine Freude – aber das liegt daran, dass die Welt so schlecht ist. Obwohl sie wiederum nicht ganz so schlecht sein kann, wenn man doch offenbar gesund ist.
»Weißt Du noch, Mojsche, letzten Monat ging es Dir so schlecht, dann habe ich Dir später etwas Suppe gemacht …«
»Oj wej, Sorele, das war ganz anders: Erst hast Du mir etwas Suppe gekocht, und später ging es mir so schlecht.«
Man kann also immer später auch noch krank werden. Beseder, in Ordnung, aber gerade jetzt wäre man immerhin gesund. Und das ist schließlich die Hauptsache, ob jetzt oder später!
Warum ist das die Hauptsache? Das liegt daran: Auch wenn die Welt schlecht ist, sogar wenn sie schlechter ist als schlecht, ja, wenn sie sogar schon so schlecht ist, dass es schlechter nicht mehr geht, dann geht es eben doch ein wenig schlechter – wenn es nämlich dir noch schlechter geht als der Welt. Dann ist die Welt schlecht für dich, und du bist auch noch krank, ebenfalls für dich. Und wenn du krank bist, dann wirst du möglicherweise auch noch bös auf die Welt, und am Ende bist du für die Welt fast genauso wenig gut wie die Welt für dich schlecht ist. Wenn du dagegen gesund bist: Dann ist die Welt zwar schlecht für sich, du aber bist für dich ganz gesund.
Jedenfalls: Damit du nachher genauso gesund bleibst, wie du es vorher schon gern gewesen wärst, gibt es den Arzt. Einen echten Arzt zu Gesicht zu bekommen, ist allerdings fast unmöglich. Noch unmöglicher ist nicht viel mehr als nur eines, nämlich ins Krankenhaus zu gelangen. Und das, obwohl man schon im Krankenhaus geboren wird und nicht selten darin stirbt. Aber was ist mit der Zeit dazwischen? Die Zeit dazwischen verbringt man im Wartezimmer.
Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.
Denn die wichtigste Strategie des Gesundheitswesens besteht darin, den Patienten schon vor jeder Behandlung derart zu zermürben, dass er nichts sehnlicher wünscht, als aus ebendiesem Gesundheitswesen endlich entlassen zu werden.
Einen echten Arzt zu Gesicht zu bekommen, ist also fast unmöglich, und selbst wenn du einen echten Arzt zu Gesicht bekommst, heißt es nicht, dass es ein richtiger Arzt ist.
Und selbst wenn du einen richtigen Arzt zu Gesicht bekommst, heißt es nicht, dass umgekehrt auch er dich zu Gesicht bekommt. Denn vielleicht sieht er nur seine Papiere, seine Bildschirme und seine Instrumente. Ja, selbst wenn er dich sieht, sieht er dich vielleicht nicht ganz, sondern nur teilweise. Der eine sieht nur deine Leber, der andere sieht nur deine Lunge, der dritte nur dein Herz, der fünfte nur, was weiß ich, deinen Herzbeutel – und der sechste deinen Geldbeutel.
Das sind natürlich nur ganz üble Klischees, die nicht wahr sind, und zwar nicht im Geringsten, sondern höchstens vorwiegend. Das sind ganz üble Klischees, denn der Arzt macht auch nur seine Arbeit. Er macht seine Arbeit genauso wie die anderen. Was ist der Unterschied zwischen einem Dieb und einem Arzt? Beim Dieb ist der Hausbesuch inklusive.
Aber für meine Gesundheit ist mir nichts zu schade – solange die Kasse zahlt. Und ohnehin sind das, wie gesagt, alles ganz üble Klischees, denn die meisten Ärzte sind gewissenhaft und ehrlich. So ehrlich, dass es manchmal gewissenhafter wäre, nicht ganz so ehrlich zu sein.
»Herr Doktor, mir graut schon vor der Nieren-OP … Was wird mich das kosten?«
»Nu, mindestens eine Niere …«
Ein Arztbesuch ist nichts für schwache Nerven, erst recht der Nervenarztbesuch. Aber für meine Gesundheit ist mir, wie auch schon gesagt, nichts zu schade, nicht einmal die Nerven, insbesondere die der Ärzte.
»Doktor, welche Nachrichten haben Sie für mich?«
»Herr Rabinowitsch, ich habe für Sie eine gute und eine schlechte Nachricht …«
»Lieber erst die schlechte, Herr Doktor!«
»Nu, die schlechte ist: Es gibt leider keine gute …«
Ja, ein Arztbesuch ist eben nichts für schwache Nerven. Aber so ist es mit den Ärzten: Entweder du gehst hin – oder du gehst drauf. Das liegt daran, dass die Welt für den Menschen manchmal sehr ungesund ist. Etwas Gesünderes als die Welt gibt es allerdings auch nicht, denn es ist für den Menschen noch deutlich weniger gesund, nicht auf der Welt zu sein.
Warum ist die Welt dermaßen ungesund und warum gibt es nichts, was gesünder wäre als die Welt? Fragt das nicht mich, fragt das den Schöpfer, der hat sie so erschaffen. Warum? Weil er in dieser Welt nun Arzt spielen kann. Gott ist der oberste Arzt des gesamten Kosmos – und wenn man schon einen gewöhnlichen Arzt kaum zu Gesicht bekommt, dann ist klar, warum sich Gott nie blicken lässt. Er hat eben tojsent dajes (tausend Sorgen). Meinetwegen – solange er nur gesund ist!
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