- Kultur
- Literatur
100. Todestag von Franz Kafka: Strampeln bis Amerika
»Franz Kafka. Um sein Leben schreiben« – eine Spurensuche von Rüdiger Safranski
Der Angestellte K., unbescholten, so sittsam wie strebsam, wird eines Morgens grundlos verhaftet. Er verschwindet auf ewig im Spinnennetz eines undurchdringlichen Justizapparates; er löst sich auf in einer gnadenlos motorischen Logik, deren Konsequenz nur die Hinrichtung sein kann. Franz Kafkas »Prozess« ist einer der unheimlichsten Texte über jenen Wahn der Verfolgung, der seine grausamen Fantasien aus der Wirklichkeit der Paragraphen und Dogmen bezieht, vor allem aber aus der verhängnisvollen Energie menschlicher Gehorsamkeitsgene.
Mehr zum Thema: Ein Fixpunkt geht spazieren – Kolumne von Thomas Blum zum 100. Todestag von Kafka
Jede Wahrnehmung in diesem Roman gerät zur Steigerung einer eingebildeten Realität, die nichts Gutes verheißt. Wer so etwas schreibt: Wie gefangen ist dieser Mensch selber? Im Juni dieses Jahres jährt sich zum 100. Mal Kafkas Todestag – Rüdiger Safranski hat ein Buch über das geschrieben, was diesen rätselhaftesten wie klarsten Dichter der Moderne getrieben und getragen hat. Was musste Kafka tun, um sich als existent zu fühlen? Er musste nur eines (so der Titel des Buches): »Um sein Leben schreiben.«
Vorgelegt wird eine biografische Spurensuche, die im Werk wurzelt und den Widerspruch erzählt: Kafka ist besessen vom Schreiben, es befreit ihn mehr und mehr von der quälenden Erträglichkeit des Alltags, aber zugleich, trotz schönster Entrückung, lebt er doch diesen Alltag. Er weiß um die Lockungen der profanen wie exotischen Welt, von Palästina bis Südamerika, und nicht zuletzt erfüllt er ausgezeichnet die Pflichten eines Angestellten der Prager Versicherung. Das Schreiben ist ein Leben gegen diese Welt – ohne sie freilich gänzlich abzuschreiben.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Safranski – wie in seinen Büchern über Nietzsche, Goethe, Schopenhauer, Schiller, Heidegger und Hölderlin – kennt sich aus, er ist genau, er überzeugt einmal mehr durch Wissen. Aber er ist zum Glück kein Besitz-Wissenschaftler oder Überblicks-Rezensent, der mit hochgerecktem Hirn enzyklopädisch austeilt, der also Zeitgrößen oder ganze Epochen in den Gewahrsam deutender Beflissenheit einsperrt. Dieser Autor erspart uns jene sattsam bekannte literaturkritische Liaison von Richtigkeit und Langeweile, die nichts von den Entfesselungen bewegter Seelen weiß, weil sie Geschichte und Geschicke nur immer ins Analyse-Joch von Strukturen und Verhältnissen zwingt.
Sehr verhalten, geradezu höflich agiert Safranski, er entlarvt nicht und versteigt sich nicht ins mystisch-dunkle Schwärmen; in Kafkas Weltscheu entdeckt er ein glückhaftes Lächeln, und in dessen Selbstbezichtigungen, so gar nicht ins gewöhnliche Leben zu passen, sieht er doch die ästhetische Grandezza. Und da sind, in Freundschaft oder Begehren, die Gefährtinnen: Grete, Julie, Dora, Milena. Frauen sind Kafkas Leiden dort, wo nur die Schreiblust einen wahren Rausch erzeugt; aber sie entfachen doch Lust, wo selbst das geliebte Schreiben nur Leid und Hemmung ist. Jeder Genuss ist auch Qual, jedes Glück ein Todesbote. Felice Bauer – ihr vor allem wird er zum urteilsbittenden Vorleser (»Das Urteil«, »Die Verwandlung«), und die Empfindungen toben im krassen Temperaturwechsel. Trieb und Treue und Trennung, und dazu dieser lastende Drang der Eltern, Franz möge endlich eine Familie gründen: Immer den Unglücklichsten frag, was Liebe sei.
Erzählt wird mit Kafkas Leben der Roman einer doppelten Last: wie den Freiheiten der Fantasie und den Forderungen der Realität gleichermaßen gerecht werden? Und warum überhaupt dieses fortwährende Streben nach Gleichgewichten? Schöne Erfahrung noch im Verzweifeln: Wo das Ästhetische, das gleichsam Welt-Entgegengesetzte naiv behauptet und verteidigt wird, dort entsteht Anmut, die den Scherben auf unseren Wegen ein Glitzern gibt.
Höchstes Lob für Literatur: Man schreibt nicht (und man liest nicht!) wegen des Vergnügens, nein, man gräbt sich selber um. Das ausweglose Kafka-Universum wird plötzlich zur Ermunterung. Weil Schuldgefühle, ob nun gegenüber dem geliebten Werk oder den geliebten Wesen, bei diesem zarten Menschen »etwas Entfesselndes haben, nicht etwas Lähmendes«. Denn, wer Schuld fühlt, ist am Kern des Lebens angelangt. Rede doch keiner, leichtfertig oder klassenkampffeurig, von der möglichen besseren Welt – das jeweils Neue der Zeit ist dies: der immer wieder alte festgelegte Mensch. Schuld macht uns bewusst, wer wir sind, und einzig, wer verliert, macht Erfahrungen. Sieger machen das Rennen, aber keine Erfahrungen. Sieh doch nur, zum Beweis, diese Glätte ringsum.
Im Romanfragment »Amerika« etwa erzählt Kafka die Odyssee des sechzehnjährigen Deutschen Karl Rossmann – von den Eltern verstoßen, aufs Schiff verfrachtet, in New York so landend, wie man im richtigen Leben landet: um zu strampeln, zu klettern, zu rutschen. Zu strampeln für ein wenig Geld, zu klettern für ein bisschen Geltung – am Ende alles nur, um wegzurutschen und abzurutschen. Amerika ist das fortdauernde Gleichnis: große Überfahrt, um unterzugehen auf dem allzu festen Land. Zur Musik deiner Überflüssigkeit darfst du tanzen. Aber du tanzt ja nicht. Du strampelst.
Safranski beschreibt das so traurig wie strikt: Wir strampeln. Das lässt nicht nach. Nur die Kraft lässt nach. Des Menschen hauptsächlicher Nachlass ist Kraftlosigkeit. Jede noch so neue Idee für das, was wir Gesellschaft nennen, blüht auf Existenztrümmern. Entfremdung ist unabwendbar. Du kannst in deinem Leben machen, was du willst, du wirst doch nie tun, was du wirklich wolltest. Stürz’ dich wohlig in den Gemeinsinn, aber du beseitigst so die Einsamkeit nicht. Kafkas Schreib-Wahrheit sagt: Das Urteil über die Welt ist in bloßen Abbildern der Wirklichkeit nicht zu erfassen, es muss etwas Absurdes her, etwas Unangemessenes. Martin Walser hat von der »komischen Güte« Kafkas gesprochen, von einem »bis zum Irrsinn zarten Gewissen« im Werk.
Kafkas Bekenntnis: Er habe »kein litterarisches Interesse«, nein, er bestehe »aus Litteratur«. Das heißt: Aufbesserung der realen Misere durch eine Hochfahrt des Gedankens und der Gefühle. Ein altes Seelenhaushaltsmittel. Das auch wir Leserschaft, in Ansehung unseres unbegründbaren Daseins, sehr nötig haben. Uns rettet kein Trost, aber vielleicht die Fähigkeit, Trost zu suchen. Gerade bei Kafka. Dort, wo die Welt am trostlosesten ist.
Rüdiger Safranski: »Kafka. Um sein Leben schreiben«. Hanser, 256 S., geb., 26 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.