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- Massaker von Oradour und Tulle
Und die Mörder ließen sich fotografieren
Die Massaker von Oradour und Tulle prägen bis heute die französische Erinnerung an den deutschen Aggressor
In den Tagen des D-Days erlebten die Okkupationsmächte in Frankreich einen deutlichen Aufschwung der Widerstandsbewegung, die mit ihren Aktionen die Operation »Overlord« unterstützten. SS und Wehrmacht reagierten mit einer Form des Vernichtungskriegs, wie sie bis dahin nur von der Ostfront und aus der Balkanregion bekannt war. Zwei dieser Massaker prägen bis heute das französische Narrativ.
Auf die Nachrichten von der Landung der Alliierten griffen bewaffnete Einheiten der Resistance die zentralfranzösische Stadt Tulle im Departement Corrèze an. Im direkten Gefecht mit den deutschen Truppen befreiten sie Tulle und schlossen Einheiten des deutschen Sicherungsregiments in der Munitionsfabrik der Stadt ein. Zur Unterstützung dieses Regiments rückte die 2. SS-Panzerdivision »Das Reich« unter dem Kommando von SS-Gruppenführer Heinz Lammerding am 8. Juni 1944 gegen die Stadt vor. Die Kämpfer der Resistance mussten sich zurückziehen. Mit der Behauptung, kommunistische Kämpfer hätten deutsche Soldaten »bestialisch ermordet«, forderte Lammerding, die der »deutschen Fahne angetane Beleidigung« zu sühnen. SS-Leute machten daraufhin Jagd auf männliche Einwohner der Stadt, vorwiegend auf solche im wehrfähigen Alter. In der Munitionsfabrik wurden die Gefangenen eingekerkert.
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Ein SS-Richter erklärte die bevorstehende Exekution wegen sogenannter Bandenbekämpfung »für rechtens«. Am Nachmittag des 9. Juni 1944 begannen die Hinrichtungen. Einwohner der Stadt mussten zusehen, wie die Henker Stricke zu Schlingen knüpften und sie an Laternenpfählen, Balkongittern, Bäumen und Telefonmasten befestigten. Jeweils zehn Gefangene wurden öffentlich gehängt. 99 Franzosen starben an jenem Nachmittag an den Galgen der 2. SS-Panzerdivision. Der jüngste war der 17-jährige Lehrling Viellefond, der älteste der 45-jährige Fahrradhändler Maury. Die Mörder ließen sich nach den Hinrichtungen mit den erhängten Opfern fotografieren, zur Erinnerung. Zudem wurden mehr als 100 Bürger der Stadt in das KZ Dachau verschleppt.
Am folgenden Tag wütete eine andere Einheit derselben SS-Division in Oradour-sur-Glane. Fast zeitgleich mit einem Massenverbrechen der Wehrmacht in Distomo (Griechenland) wurde der französische Ort am 10. Juni 1944 vernichtet. Als Vorwand diente auch hier eine Aktion der Résistance. Dies hatte in der Nähe des Ortes den SS-Bataillonskommandeur Helmut Kämpfe gefangen genommen. Doch statt eines Gefangenenaustausches wurde Oradour-sur-Glane zerstört. Die SS richtete ein bestialisches Massaker an. Mehr als 400 Frauen und Kinder wurden in der kleinen Kirche des Dorfes eingepfercht. Nach etwa eineinhalb Stunden legten die SS-Leute an der steinernen Kirche Feuer. Der hölzerne Dachstuhl des Kirchturms ging in Flammen auf und schlug schließlich durch das Dach des Kirchenschiffes auf die eingeschlossene Menge. Zuvor schon wurden die Eingeschlossenen von Fenstern und Türen aus beschossen und mit Handgranaten beworfen.
Die verbliebenen gut 200 Männer und älteren Jungen waren in Garagen und Scheunen festgesetzt worden. Auf ein Signal hin eröffneten die Soldaten das Feuer. Anschließend wurden die Körper ohne Rücksicht auf verletzte Überlebende mit Stroh bedeckt und angezündet. Insgesamt wurden 642 Menschen ermordet. Eine ganze Ortschaft wurde ausgelöscht. Berichte über diese Massaker verbreiteten sich innerhalb weniger Tage in Frankreich. Sie führten aber, anders als von den Mördern geplant, nicht zur Abschreckung, sondern zu einer Intensivierung des militärischen Widerstandes.
Wenn an diese Massaker erinnert wird, dann darf nicht vergessen werden, dass die Täter weitgehend straffrei blieben. Heinz Lammerding und weitere Tatbeteiligte wurden in Frankreich in Abwesenheit angeklagt. Für dieses Verbrechen konnte es für das Gericht in Bordeaux 1953 kein anderes Urteil als die Todesstrafe geben. Eine Auslieferung nach Frankreich kam nicht in Frage, jedoch fand sich auch kein bundesdeutsches Gericht, das Heinz Lammerding zur Rechenschaft gezogen hätte. Nur in der DDR wurde Heinz Barth, ehemals Zugführer in Oradour, 1983 verurteilt. Nach der Wiedervereinigung wurde dieses Urteil als »Unrechtsjustiz« aufgehoben.
Es reicht daher nicht aus, wenn in diesem Jahr der deutsche Bundespräsident, wie andere Präsidenten vor ihm, in einer »Betroffenheits«-Tour nach Oradour reist und dort salbungsvolle Worte von sich gibt. Zu fordern wäre eine Erklärung im Namen der Bundesregierung, die von den Opfern und ihren Angehörigen als angemessen verstanden wird. Eine solche Erklärung müsste sich auch auf die Opfer deutscher Kriegsverbrechen beispielsweise in Griechenland, dem ehemaligen Jugoslawien und Italien beziehen. Doch selbst 80 Jahre nach den historischen Ereignissen, ist die Bundesregierung nicht bereit, mehr als Worte des Bedauerns für die faschistischen Verbrechen in den Tagen des D-Days zu äußern.
Unser Autor, Historiker, ist Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) und unter anderem Autor eines Buches über die Résistance in Frankreich (PapyRossa)
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