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Die Linken in der Krise: Gazastreifen statt Dönerpreisbremse
Olivier David stellt sich die Frage, warum so wenige Arbeiter*innen die Linke bei der Europawahl gewählt haben
Als politischer Kolumnist kann man in diesen Zeiten regelrecht dankbar sein, sich am Montag nach der Europawahl wieder an die Arbeit zu machen. Die Wahlergebnisse: dramatisch! Der Faschismus: allgegenwärtig! Die Arbeiterklasse: auf Abwegen!
33 Prozent der Arbeiter*innen wählen die AfD, dahinter kommt die Union mit 24 Prozent. Menschen mit »einfacher« Bildung wählen zu 22 Prozent AfD und zu 38 Prozent die CDU. Mehr als zwei Drittel der Menschen, die weniger als 1500 Euro verdienten, gaben an, dass sie sich Sorgen machten, ihren Lebensstandard bald nicht mehr halten zu können. Unter den AfD-Wähler*innen lag der Anteil sogar bei 78 Prozent.
Eine linksliberaler Ansatz wäre es nun, jeden dritten Menschen, der – oh Gott – seine Hände zum Arbeiten benutzt, präventiv als Faschisten zu bezeichnen. So hat man es die vergangenen zehn Jahre getan, und – oh Mann – hat es sich gut angefühlt! Oder man beschäftigt sich mit inhaltlichen Positionen.
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.
In den vergangenen zwei Jahren saß ich auf einigen Veranstaltungen mit Politiker*innen der Linken. Darunter waren viele gescheite und bescheidene Menschen. In keinem der Gespräche mit Politiker*innen der Partei stieß ich auf ein Verständnis für die richtige Ansprache und Vermittlung von Politik. Häufig war das Gegenteil der Fall: Politiker*innen, die auf Podien mit CDU-Politikern kumpelten, die technokratische Aspekte betonten mittels einer Sprache, die niemanden von unten abholt.
Mein Highlight war eine Einladung zum Erwerbslosenparlament in Mecklenburg-Vorpommern. Ich sollte eine Rede über Armut halten. Zu Gast waren etwa 150 Erwerbslose, die für einen halben Tag die Agenda bestimmten. Die beiden Politiker der Linken und der CDU verloren sich dabei im Einmaleins des politischen Tagesgeschäfts.
Lesen Sie Hintergründe und Interviews auf unsere Themenseite zur Europawahl.
Was nicht verstanden wurde und wird: Politik ist ein Ort der Gefühle. Gefühle von Wut, von Hass, Ohnmacht, Verlorenheit und Trauer sind politische Gefühle. Wo werden diese Gefühle von Politiker*innen der Linken adressiert? Wo werden sie gestärkt? Wo wird dem Hass begegnet, den die Menschen in ihrem Alltag fühlen? Wie wird er von links aufgefangen? Warum sind Linke-Politiker nach der Correktiv-Recherche in einer Reihe mit Politiker*innen von SPD, Grünen und CDU demonstrieren gegangen, die für genau die Politik stehen, die die Demos zu bekämpfen vorgaben?
Die Linkspartei ist Teil der Institution. Und Institution bedeutet Herrschaft. Die Leute unten verstehen das, mit einem Teil ihres Körpers, der nicht der Kopf ist. Wo bleiben die Politiker*innen, die Worte wie Teilhabe, Arbeitskampf und das bessere Leben nicht bloß im Mund, sondern in ihren Körpern tragen? Und wenn es sie nicht gibt, wo bleibt ihre Förderung? Warum Dönerpreisbremse und nicht das Leid im Gazastreifen? Warum sollte jemand in der Straße, in der ich aufgewachsen bin, wo ein halbes Dutzend Leute im Gefängnis gelandet sind, das Spitzenpersonal der Linken wählen?
Am Ende stehen keine Gewissheiten mehr, sondern Fragen. Sie könnten ein Anfang sein.
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