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Das Milliönchen Stimmen
Das Ausmaß der Linke-Niederlage bei der EU-Wahl ist historisch. Sie muss aufpassen, dass ihr in den anstehenden Wahlkämpfen nicht die Zeit davon läuft
Um einen Vergleich für das Ausmaß der Niederlage der Linken bei der EU-Wahl zu finden, muss man weit zurückgreifen. Es war im August 1990, als Gregor Gysi den bundesweiten Anspruch der PDS betonte: »Das Milliönchen Stimmen im Westen trauen wir uns zu«, dann sei die Fünf-Prozent-Hürde kein Problem. 1 091 268 Stimmen gab es für Die Linke bei der Europawahl Anfang Juni 2024, ziemlich genau das Milliönchen – nur eben im gesamten Bundesgebiet. Ein Desaster.
Es ist eine Wahl mit Folgen, denn die gut sechs Prozent des BSW sind der erste praktische Beweis dafür, dass diese neue Partei das politische System in Bewegung bringen kann. Zunächst vor allem dort, wo eine Regierungsbildung aufgrund der starken AfD immer schwieriger wird.
Dass man für hohe Umfragewerte in den Ländern kein landespolitisches Programm braucht, sondern nur eine Führungsfigur in Berlin mit Dauerwohnsitz in den Medien, sagt einiges über das Wechselspiel zwischen medialer Inszenierung und politischer Stimmung.
Es verweist aber ebenso auf eine verbreitete Unzufriedenheit und Verunsicherung in der Wählerschaft und auf Leerstellen linker Politik. Der krasseste Fall dürfte Thüringen sein, wo die Partei des weithin anerkannten Ministerpräsidenten in der jüngsten Umfrage deutlich zurückfiel, auch weit hinter das BSW, das landespolitisch ein leeres Blatt ist, kaum mehr als ein Versprechen auf bessere Zeiten. Das macht es für Die Linke nicht leichter; in Sachsen muss sich die Partei sogar an die Hoffnung auf wenigstens zwei Direktmandate klammern.
Hatten Beobachter zunächst gemutmaßt, das BSW schaffe keine fristgemäßen Landtagskandidaturen, so ist es jetzt Die Linke, der die Zeit für einen Neuanfang davonläuft. Gleichzeitig zeigen erste Aus- und Rücktritte aus BSW-Vorständen und Kommunalfraktionen, wie brüchig die Oberfläche der Anfangserfolge bei diesem unausgegorenen, bunt zusammengewürfelten Bündnis ist.
Wenn nun die langjährige Abgeordnete Gesine Lötzsch der Linke-Führung vorwirft, sich nicht genügend um Sahra Wagenknechts Verbleib in der Partei bemüht zu haben, wäre dem entgegenzuhalten, dass die Positionen des BSW zeigen, wie groß die Differenzen inzwischen sind. Lötzschs Bundestagswahlkreis in Berlin-Lichtenberg ist übrigens ein gutes Beispiel für die Verschiebungen im Wählerverhalten. Seit 2002 gewann sie den Wahlkreis deutlich mit Erststimmenanteilen zwischen 35 und 47 Prozent. Zuletzt, 2021, waren es noch 25,8 Prozent – und das noch ohne BSW-Konkurrenz.
Lötzsch will 2025 nicht mehr kandidieren. Sollte Die Linke bei der nächsten Bundestagswahl erneut bei einem Milliönchen Stimmen hängen bleiben, dann helfen ihr auch keine Scherze von Gregor Gysi mehr.
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