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Wenn die stille Ostsee laut wird
»Windstärke 17«, ein neuer Erfolgsroman von Caroline Wahl
Wir müssen ständig von Klippen springen und unsere Flügel auf dem Weg nach unten entwickeln«, schrieb Kurt Vonnegut. So ergeht es auch den wasseraffinen Heldinnen der Bücher von Caroline Wahl, der neuen Bestsellerautorin aus Rostock. Vergangenes Jahr legte die 29-jährige mit »22 Bahnen« das erfolgreichste deutsche Romandebüt hin. Die Geschichte um Tilda und Ida, zwei Schwestern, die mit einer alkoholkranken Mutter aufwachsen, traf ohne Kitsch und Pathos mitten ins Herz – nicht nur der jungen Leser. Dieser bildstarke Roman mit den authentischen Dialogen wird zurzeit verfilmt. Nur knapp ein Jahr später legt Wahl mit dem Spin-off »Windstärke 17« nach – und führt damit bereits wieder die Bestsellerliste des »Spiegel« an.
In »22 Bahnen« ging es hauptsächlich um Tilda, die sich um ihre Schwester Ida und den Haushalt kümmert und die Elfjährige, so gut es geht, vor der alkoholkranken und zuweilen gewalttätigen Mutter schützt. Nebenbei zieht Tilda ihre täglichen Bahnen im Schwimmbad, jobbt und studiert Mathematik.
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Der Nachfolgeroman, den man auch lesen kann, ohne den ersten zu kennen, dreht sich um Ida, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird. Am Ende blieb sie allein mit ihrer Mutter zurück, da Tilda wegging, um eine Promotionsstelle anzutreten. Anderthalb Jahrzehnte später zieht Ida aus der mütterlichen Wohnung aus: Sie ist völlig durcheinander, die Mutter hat sich umgebracht, Ida fand sie bei der Rückkehr von einer Reise tot im Schlafzimmer. »Ich habe Mama sterben lassen«, wirft sie sich selbst vor.
Von Schuldgefühlen geplagt, voller Trauer, aber auch mit »Wutklumpen« im Hals macht sie sich auf den Weg nach Hamburg, zu ihrer Schwester, die mittlerweile ein bürgerliches Leben führt. Ida nimmt nur ein paar Lieblingsklamotten und ihr Macbook mit, denn sie hat vor einiger Zeit begonnen zu schreiben, ein Verlag hat bereits Interesse an einem Roman signalisiert. Doch letztlich fühlt sich Ida nicht in der Lage, ihre fürsorgliche Schwester zu ertragen, und fährt einfach weiter nach Rügen. »Ich dachte, wenn ich weit weg bin, dann sind die Gedanken leiser. Aber sie sind laut, und sie tun weh«, muss sie jedoch verzweifelt feststellen.
Aber Ida hat Glück: Sie findet einen Kneipenjob bei Knut, darf nach einem Zusammenbruch sogar bei ihm und seiner einfühlsamen Frau Marianne wohnen. So lernt sie in kleinen Schritten, Unterstützung anzunehmen. Das wirkt fast märchenhaft, wie der Wendepunkt in einem gut geplotteten Film.
Doch vielleicht sind es gerade dieses Elemente der immer wieder auflodernden Hoffnung in einem Meer aus Kummer und die demonstrative Menschlichkeit der handelnden Figuren, die den Erfolg von Wahls Romanen ausmachen. Selbst die alkoholkranke Mutter hatte ihre liebenswürdigen Momente. Auch alle Nebenfiguren bemühen sich, in ihrem problembeladenen Alltag füreinander da zu sein: Eine literarische Atempause in Zeiten der Stapelkrisen.
Doch bevor Ida Licht am Ende des langen Tunnels voller Selbstvorwürfe und Trauer sehen kann, ist es noch ein weiter Weg. Ähnlich wie ihre Schwester im Vorgängerroman stürzt sie sich immer wieder in die Fluten – jedoch nicht in die geordneten Bahnen eines Freibads, sondern ins Meer – auf der verzweifelten Suche nach so etwas wie Erlösung. »Die Gedanken und der Schmerz laufen aus meinem Körper raus, rein in die stille Ostsee und ich frage mich, ob sie jetzt laut ist und schreit.«
Diese Szenen am Meer gehören zu den eindringlichsten. Die Wassermetaphorik scheint der Autorin, die sogar wegen ihrer Liebe zum Meer nach Rostock gezogen ist, zu liegen. Als sich für Ida jedoch alles ein wenig zum Guten zu wenden scheint, gerät ihre Welt erneut aus den Fugen. Doch sie meistert letztlich auch diesen Sprung von der Klippe, das scheint eine weitere Erfolgszutat von Wahls Romanen zu sein.
Caroline Wahl: Windstärke 17. Dumont, 256 S., geb., 24 €.
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