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Gösta Beutin: »Wut wird nicht dahin gerichtet, wo sie hingehört«

Der Linke-Vizevorsitzende Lorenz Gösta Beutin über sozialen Protest,die Krise seiner Partei und den Kampf gegen Ungleichheit

»Wir brauchen keinen Populismus, aber eine populärere Ansprache«, sagt Linke-Vize Lorenz Gösta Beutin.
»Wir brauchen keinen Populismus, aber eine populärere Ansprache«, sagt Linke-Vize Lorenz Gösta Beutin.

Bei der Europawahl und den gleichzeitigen Kommunalwahlen hat Die Linke die schwerste Niederlage ihrer Geschichte erlitten. Manche politischen Beobachter sehen sie am Ende. Erleben wir, wie sich ein politisches Kapitel schließt?

Es gibt nichts daran zu deuteln: 2,7 Prozent bei der EU-Wahl und damit eine Halbierung gegenüber 2019 sind existenzbedrohend.

Zumal schon die damaligen 5,5 Prozent als Pleite empfunden wurden.

Genau. Aber es wird wieder etwas Neues beginnen. Dafür reden wir jetzt über die Gründe. Zu denen gehören hausgemachte Probleme wie das über Jahre entstandene Image einer zerstrittenen Partei. Damit haben wir unseren Ruf massiv geschädigt. Dazu kommt eine gesellschaftliche Stimmung, in der progressive Kräfte, soziale Bewegungen, Gewerkschaften relativ schwach dastehen.

Schwache Gewerkschaften? Die führen doch erfolgreiche Tarifkämpfe.

Das ja, aber sie haben in der gesellschaftlichen Debatte leider nicht die entsprechende politische Wirkmacht etwa im Kampf um soziale Gerechtigkeit. Genauso wenig wie die linken Parteien. Stattdessen dominiert der rechte Populismus beim Bürgergeld, bei Migration und der Konkurrenz um Wohnungen. Die Wut wird nicht dahin gerichtet, wo sie hingehört: gegen die Superreichen, gegen die Konzerne, die von Pandemie und Inflation auf Kosten der einfachen Leute historisch profitiert haben, gegen eine Politik, die im Interesse der Krisengewinnler handelt.

interview

Lorenz Gösta Beutin, Jahrgang 1978, ist stellvertretender Vorsitzender der Linkspartei. Als Jugendlicher war er in der Umweltbewegung aktiv, 2000 trat er in die PDS ein. Von 2017 bis 2021 war er Bundestags­abgeordneter. Beutin, der in Kiel lebt, gehört zu den profiliertesten Linke-Politikern in Sachen Klima und Klimagerechtigkeit.

Die Linke, die hier einhaken und punkten müsste, verliert dramatisch. Herrschen im Karl-Liebknecht-Haus miese Laune und Endzeitstimmung?

Miese Laune ganz sicher, aber keine Endzeitstimmung. Wir ringen darum, wie wir aus dieser tiefgreifenden Krise, die ja nicht erst jetzt entsteht, herauskommen. Dazu gehört, dass wir das Profil der Linken schärfen, dass wir die politischen Gegner, die immer rechts von uns stehen, noch viel stärker angreifen. Und wir nehmen organisatorische und personelle Weichenstellungen vor, bereiten diese vor.

Hatte nach der Europawahl jemand aus dem Linke-Führungszirkel den spontanen Gedanken zurückzutreten?

Es ist klar, dass die Partei sich beim Parteitag im Oktober neu aufstellen muss – nicht nur inhaltlich und organisatorisch, sondern auch personell. Das bereitet der Parteivorstand vor. Wir brauchen dann einen neuen Vorstand, der von der gesamten Partei getragen statt bekämpft wird, so wie es die Spalter um Wagenknecht bis zuletzt gemacht haben. Und eine klare Fokussierung auf wenige Kernfelder. Denn wir müssen erreichen, dass die Menschen uns mit ein paar zentralen Inhalten verbinden. Und außerdem müssen wir in den nächsten Wochen die Landtagswahlkämpfe unterstützen.

Was lässt sich in den wenigen Wochen bis zu den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg noch retten? Die 2,7 Prozent von der Europawahl, auch die schwachen Ergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern, könnten den Leuten sagen, dass eine Stimme für Die Linke sich nicht mehr lohnt.

Deshalb brauchen wir eine inhaltliche Zuspitzung. Dabei müssen möglichst viele Mitglieder die Wahlkämpfer unterstützen, die Partei wieder attraktiv machen, damit deutlich wird: Die Linke ist da. Sie ist die einzige Linke. Sie ist inhaltlich und personell gefestigt. Wir wollen, dass sich die Menschen neu in Die Linke verlieben. Tausende Neumitglieder zeigen, dass das linke Wurzelwerk lebt und wieder neu wachsen will.

Ist es nicht beinahe nebensächlich, ob Die Linke in Europa mit drei oder fünf Abgeordneten vertreten ist – aber existenziell dramatisch, dass ein Teil der kommunalpolitischen Basis weggebrochen ist?

Das ist dramatisch, zumal wir an eine Politik verloren haben, die eher auf Ressentiments setzt als auf Lösungen. Um uns kommunal wieder stärker zu verankern, müssen wir auch über Strukturfragen reden. Und deutlich machen, worin wir uns von anderen Parteien grundlegend unterscheiden.

Wenn Ressentiments ein Erfolgsrezept sind, was heißt das für Die Linke? Soll sie auf verkürzte Schlagworte setzen, also auf Populismus?

Wir brauchen keinen Populismus, der die Realitäten manipulativ verdreht, aber wir brauchen eine populärere Ansprache. Wir müssen widerborstiger werden und viel stärker die Gegensätze zwischen denen da oben und denen da unten deutlich machen. Es geht also um eine klare Klassenpolitik.

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Unser Programm ist eigentlich ein solides Fundament, um die Gesellschaft zu verändern. Aber vielleicht begnügen wir uns zu oft mit Korrekturen der herrschenden Politik. Die AfD und auf andere Weise das BSW wollen zurück in eine kuschlige Vergangenheit; sie behaupten, dass alles wieder übersichtlich und heimelig wird, so wie es ja eigentlich niemals war. Die Vorstellung von Sicherheit spielt da eine große Rolle. Während wir zeigen wollen, warum eine Politik in Richtung Zukunft, ehrlich und nach vorne, für eine solidarische Gesellschaft ein Mehrwert für alle oder jedenfalls für 99 Prozent ist. Und da müssen wir besser werden.

Die Grünen haben bei der Europawahl massiv verloren, Die Linke wollte davon mit dem Thema Klimagerechtigkeit profitieren. Warum hat das überhaupt nicht funktioniert?

Wir wollen keinen grünen Kapitalismus und auch keinen Wettbewerb »Höher, schneller, weiter« mit den Grünen. Aber erstens hat das Thema Klimagerechtigkeit in der Partei lange eine nachgeordnete Rolle gespielt. Dabei gäbe es konkrete Projekte. Etwa ein Gewinnverbot in den Wärmenetzen wie in Dänemark. Oder eine Rekommunalisierung der Wärmenetze, eine Verstaatlichung der Stromnetze als Teile öffentlicher Daseinsvorsorge. Tatsächlich aber gehen Veränderungen unter Regie der Grünen eher zulasten der Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen. Das heißt, Klimapolitik ist für viele verknüpft mit der Angst vor sozial ungerechter Politik. Dazu kommt die permanente Angstmache einer Anti-Energiewende-Front aus Merz, AfD, Söder, Wagenknecht und »Bild«.

War die Spitzenkandidatur von Carola Rackete – auch die Hoffnung, mit ihr neue Wählerschichten zu erreichen – angesichts des Wahlergebnisses ein Fehler?

Eine Person alleine kann nichts rausreißen. Unser Kandidatenteam war gut, aber es konnte grundlegende Defizite der Linken nicht beheben. Wir haben jetzt Hausaufgaben zu erledigen, um uns stärker als soziale Alternative zu profilieren.

Ein anderes Feld, das viele Menschen aufregt und zum BSW führt, ist der Ukraine-Krieg. Was im öffentlichen Bewusstsein hängen bleibt, sind Äußerungen einzelner Linke-Politiker wie Bodo Ramelow für Waffenlieferungen an die Ukraine, ungeachtet anderslautender Parteibeschlüsse. Fehlt es da der Linken an Eindeutigkeit?

Wir haben eine differenzierte, aber dennoch klare Beschlusslage: Wir sind auf der Seite des Völkerrechts, verurteilen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, lehnen aber Waffenlieferungen und Auslandseinsätze der Bundeswehr ab. Dieses Thema polarisiert die gesamte Gesellschaft. Da ist eine große gesellschaftliche Debatte über eine erneuerte Friedensbewegung nötig, bei der es für uns keine einfachen Antworten gibt.

Andere sind mit einfachen Antworten sehr erfolgreich. An der Linken wird kritisiert, dass ihre Führung mit Wagenknecht in der Ukraine-Frage viel härter umgegangen ist als etwa mit Ramelow. Hat die Führung der Linken die Brisanz des Themas nicht ernst genommen?

Doch, haben wir. Aber wir führen kontroverse Debatten. Etwa darüber, was Friedenspolitik, Antimilitarismus und Pazifismus, eine Politik der Wahrung von Völkerrecht und Menschenrechten auf der Höhe der Zeit bedeutet. Wir haben die neue Weltlage nicht oder zu wenig besprochen, und eine Partei mit unklaren Positionen bekommt das bitter zu spüren.

Und hat die Linke-Führung die Sogwirkung der Wagenknecht-Partei unterschätzt?

Ich habe viel für möglich gehalten, weil es offenbar vielen Wählern um ein Gefühl von Sicherheit geht; und dieses Bedürfnis haben vor allem AfD und BSW bedient. Als Partei ist das BSW bisher eine Blackbox, eine auf eine Person fixierte autoritäre kleine Kaderpartei, deren Entwicklung unklar ist.

Warum reagieren Linke-Politiker wie Sie so allergisch auf das BSW?

Allergisch? Das sehe ich so nicht. Aber es ist richtig, auf Widersprüche zu verweisen. Etwa bei der Behauptung von Wagenknecht, die Klimabewegung würde aus den USA finanziert, um die Deindustrialisierung Deutschlands voranzutreiben. So etwas ist hanebüchen und hat mit Fakten nichts zu tun. Ähnliches gibt es in der Migrationspolitik. Eine solche Politik, die auf Ressentiments setzt, die mit rechten Diskursfragmenten spielt, stärkt letztlich eine rechte Hegemonie, statt sie infrage zu stellen.

In der Politikwissenschaft ist von einer Erzählung die Rede, die eine Partei haben müsse. Wie könnte die kurze, griffige Botschaft der Linken aussehen?

Für mich ist das der Kampf gegen Ungleichheit, für eine solidarische Gesellschaft, hierzulande und weltweit. Das kann für Die Linke, wenn sie es klug anstellt, ein Alleinstellungsmerkmal sein. Denn die Frage der Ungleichheit ist entscheidend bei Menschenrechten, bei der Migration, beim Kampf gegen die Klimakrise, in der gesamten Sozialpolitik, in gesellschaftlichen Fragen. Soziale Gerechtigkeit nur für Deutsche, das ist für uns nicht links. Rechte, konservative und neoliberale Kräfte hassen kaum etwas mehr als das Ansinnen, Ungleichheit prinzipiell zu überwinden. An diesem Punkt müssen wir mehr zuspitzen.

Jetzt fordern in der Linken die einen die Rückbesinnung auf den Osten, andere eine Weststrategie mit Verweis auf das Wählerpotenzial dort.

Ein Wiedererstarken der Linken wird es nur geben, wenn wir im Osten wie im Westen unser Potenzial erreichen und ausbauen. Dafür brauchen wir eine übergreifende Erzählung, die eben viel mit der Überwindung ungleicher Lebensverhältnisse, mit sozialer Gleichheit zu tun haben muss.

Wahrscheinlich braucht Die Linke Geduld für ihre Erneuerung. Was, wenn die Wähler diese Geduld nicht aufbringen? Wie wollen Sie den Optimismus vermitteln, dass es bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr wieder für fünf Prozent und mehr reichen kann?

Wir müssen beim Parteitag im Oktober die Weichen dafür stellen. Dafür gehen wir jetzt in die Debatten, auch mit den Landesverbänden, mit der Bundestagsgruppe. Alle gegenwärtigen Krisen zeigen doch, dass es eine solidarische Alternative braucht, die die Ungleichheit angreift und sich für eine andere Gesellschaft einsetzt. Eine linke Partei, die nicht umfällt, sich nicht anbiedert, wenn der Wind gerade stark nach rechts dreht, sondern zeigt, warum es ganz anders werden muss.

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