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Israel und Palästina: Danach ist Schweigen
Repräsentation einer alten Ordnung: In Hamburg sprachen Jan Philipp Reemtsma und Meron Mendel über »israelbezogenen Antisemitismus«
Ja, so kann man es sagen: »Der Punkt, an dem die Kritik an konkreter israelischer Politik in Antisemitismus kippt, ist ein zentraler Streitpunkt aktueller Debatten.« In Hamburg sollte es nun eine Debatte mehr geben, die mit diesen Worten beworben wurde. Unter dem Titel »Israelbezogener Antisemitismus? — Geschichte und Gegenwart antizionistischer Proteste« lud das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) zusammen mit der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank zu einer Diskussionsveranstaltung. »Gerade in Deutschland«, so gaben sich die Veranstalter gewiss, würden »Debatten – links, rechts und in der Mitte – immer wieder über diese Zusammenhänge geführt.«
Wie wurden nun diese »Zusammenhänge« im Verlauf der Veranstaltung erörtert? Moderiert von Wolfgang Knöbel (HIS-Direktor) sollte darüber ein Gespräch zwischen dem HIS-Mäzen Jan Philipp Reemtsma und Meron Mendel, dem Direktor der Bildungsstätte stattfinden. Zugleich wurde auf dem Einladungsflyer die Veranstaltung mit dem Slogan »Das HIS diskutiert« annonciert. Dabei setzt eine Diskussion voraus, dass unterschiedliche Standpunkte zu den jeweils verhandelten Sachverhalten zunächst einmal gegeneinander geführt werden, um danach auszuloten, wer richtig oder wer wohl möglich falsch liegt. Eben das – und das zeigte der weitgehend harmonische Gesprächsverlauf – war weder das Anliegen noch die Leidenschaft der genannten Sprecher, die von Moderator Knöbel höflich befragt wurden und das erzählten, was sie zur Thematik schon in einigen Büchern geschrieben haben. Der Moderator hatte bereits zu Beginn seiner Ausführungen lachend darauf verwiesen, dass es sich hier ja auch um eine »Werbeveranstaltung« zu den Büchern der beiden Gesprächsteilnehmer handele.
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Im Gespräch vermerkte Reemtsma den Begriff des »israelbezogenen Antisemitismus« als »merkwürdig«. So seien in der Auseinandersetzung mit der Politik des türkischen Präsidenten Erdoğan oder des französischen Präsidenten Macron eine »Türkei-Kritik« oder eine »Frankreich-Kritik« als Begriffe völlig unbekannt. Stattdessen lade der Begriff »Israel-Kritik« nur dazu ein, besagtem Staat das Odium anzuheften, kein normaler Staat und so weiter zu sein. Hier ließ Reemtsma leider offen, welcher Staat auf der Welt mit seiner konkreten Gründungsgeschichte gewissermaßen als »normal« gelten kann; die aus Trizonesien hervorgegangene West-BRD sicher nicht.
Von beiden Gesprächspartnern wurde auch der Begriff »Siedlerkolonialismus« zur Kennzeichnung von Israel als Staat zurückgewiesen. In welches Land sollten denn die schon lange aus Europa oder aus arabischen Ländern unter Todesdrohungen vertriebenen Juden zurückkehren, gab Mendel hier zu bedenken. In Sachen Israel-Boykott referierten die Gesprächspartner unterschiedliche Erfahrungen. Reemtsma erinnerte sich noch daran, Ende der 80er Jahre von Aktivisten der besetzten Häuser in der Hamburger Hafenstraße im Zusammenhang mit der Israel-Boykott-Wandparole, bei der Israel in Anführungsstrichen geschrieben wurde, darüber informiert worden zu sein, dass er als »Intellektueller« im Grunde keine Ahnung von dem »Volk der Palästinenser« haben könne. Eben das kam ihm in der Folge sehr, wie er im Unterton etwas abgegessen formulierte, »völkisch« vor.
Mendel erzählte von seiner schönen Erfahrung, als er in den frühen 90er Jahren aus Südisrael zur ersten McDonald’s-Filiale im Norden des Landes getrampt war, um dort gemeinsam mit Freunden eine Sause zu machen. Aufgrund des damaligen Boykottes vieler arabischer Länder hätte es eine Vielzahl von multinationalen Unternehmen vermieden, in Israel zu investieren. Eben dieser Boykott sei dann aber im Zuge des Oslo-Friedensprozesses Mitte der 90er Jahre an sein Ende gekommen. Wie sich überhaupt in der Zeit des damaligen arabischen Boykotts das Bruttosozialprodukt von Israel verdoppelt habe. Mendel zeigte Verständnis dafür, Produkte aus den besetzten Gebieten zu boykottieren, machte aber deutlich, wie schmerzlich heute die direkten Wirkungen des Boykotts auch für diejenigen Kräfte in Israel seien, die auf eine progressive Lösung der vor Ort völlig verfahrenen Situation hinarbeiten.
Im Laufe seiner weiteren Ausführungen machte Mendel auch noch einen Friedensvorschlag für die Region: Aufgabe des Anspruches auf das Rückkehrrecht für Palästinenser, Rückgabe der besetzten Gebiete an die Palästinenser, Zweistaatenlösung. Das ergab ein einvernehmliches, zustimmendes Nicken vorne auf dem Podium. Dann war das Gespräch zu Ende und Moderator Knöbel wollte den Raum für Fragen aus dem Publikum öffnen. Niemand meldete sich. Nach einer kleinen Pause setzte der Moderator hinzu, es könne doch auch eine Kritik formuliert werden – es wurde weiterhin geschwiegen. Der Vorteil des Schweigens gerade bei dieser Thematik besteht darin, dass niemand etwas Falsches zum Ausdruck bringt.
Erst als Knöbel nach einer weiteren kleinen Pause anregte, dass doch auch »Koreferate« gehalten werden könnten, ergriff ich das Wort: An dem Veranstaltungsverlauf sei zu bemängeln, dass von beiden Gesprächspartnern gerade in Bezug auf den »Siedlerkolonialismus« leider nicht auf die religiöse Dimension der Angelegenheit rekurriert worden sei, meinte ich. Mit den Halsabschneidern von der Hamas wie auch mit den jüdischen Siedlern seien doch im aktuellen Konflikt »religiöse Idioten« im Todestanz vereint. Reemtsma konnte mit diesem Einwurf nichts anfangen. Mendel nutze die Gelegenheit, konzise den bedeutenden Einfluss der Religiösen auf die Gesellschaft Israels darzustellen, und wies darauf hin, wie der Nationalismus auch in anderen Gegenden der Welt von Religiösen usurpiert wird – mit dramatischen Folgen.
So oder so: Der Veranstaltungsverlauf am HIS zeigte, das die Veranstaltung als solche in der Konzeption nicht als eine kritische konzipiert worden war. Dort, wo die bislang bekannten Verhältnisse in der Region Israel/Palästina erkennbar völlig aus den Fugen geraten, begnügte man sich damit, die aus der alten Bundesrepublik herrührenden Fragenkomplexe in beruhigender Art und Weise abzuhandeln. Und diese alte Ordnung ist erkennbar blind für eine ganze Reihe von drängenden Fragen. Wo es überhaupt keine Kritik, geschweige denn eine Reflexion darüber gibt, was einen zum Beispiel am Lachen auf der Berliner Sonnenallee am 7. Oktober verstört, kränkt und zunächst auch sprachlos macht, kann man in der Tat am Ende eines zwischen Institutsdirektoren freundlich geführten Gespräches nur schweigen.
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