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Schuften und Schweigen und Reihenhaus
Gefühle als Klassenfrage: Martin Becker hat mit »Die Arbeiter« einen berührenden Familien-Roman geschrieben
»Arbeiterkinder erkennen einander innerhalb von Sekunden. Das ist wie mit Straßenhunden«, erzählt der Autor Martin Becker, der in Halle lebt, in einem Gespräch mit seinem Verlag. Die Herkunft aus einer Arbeiterfamilie prägt die Menschen ein Leben lang. Didier Eribon beschäftigt sich damit in seinem Bestseller »Rückkehr nach Reims«, wie auch wieder in seinem neusten Roman »Eine Arbeiterin«. Annie Ernaux hat dazu ebenfalls viele aufschlussreiche Bücher geschrieben, beispielsweise »Die Scham«.
Becker erzählt in seinem autobiografisch inspirierten Roman »Die Arbeiter« warmherzig, aber ebenso schonungslos von seiner Herkunftsfamilie, die ihn prägte: »Ein Malocher, eine Hausfrau, vier Kinder, eins davon im Rollstuhl.«
Der Vater arbeitet in den 80ern zunächst als Bergmann im Ruhrpott, nach einem Arbeitsunfall als Schmied im Sauerland, die Mutter verdient als Näherin für ein Versandhaus etwas dazu. Denn das Geld reicht immer hinten und vorne nicht, die Familie ist »stets am Rande des materiellen Nervenzusammenbruchs«. Zigaretten, Privatfernsehen und Schnaps am Feierabend sind die einzige kurzfristige Erleichterung.
Die Mutter ist erst 15, als sie ihren künftigen Ehemann kennenlernt, sie will so schnell wie möglich »raus aus dem Elend«, weg von der herrischen Mutter, die einerseits froh ist, »ein Maul weniger stopfen zu müssen«, andererseits nicht begeistert darüber ist, dass ihre Tochter nun nichts mehr zum Familieneinkommen beitragen kann.
Das Ehepaar träumt vom kleinen Glück, von Kindern, einem Reihenhäuschen. Als die Mutter nicht schwanger wird, beschließt das Paar, ein Kind zu adoptieren. Man vermittelt ihnen einen Säugling – Lisbeth –, ohne sie darüber aufzuklären, dass ihre künftige Tochter schwer behindert ist. Als sich das Ausmaß ihrer Behinderung herauskristallisiert, stellt man ihnen frei, Lisbeth zurückzugeben – als wäre sie ein mangelhaftes Produkt. Die Eltern weisen das entrüstet von sich. Es ist auch diese tiefe Menschlichkeit der ausgebeuteten Arbeiter, die dazu führt, dass man den Roman kaum noch aus der Hand legen kann. Der Vater wird später seine demente Frau gegen den Rat der Ärzte heimholen und sich bis ans Ende seiner Kräfte und seiner Tage so rührend um sie kümmern, dass sie wieder aufblüht.
Die vom alltäglichen Existenzkampf überforderten Eltern haben keine Zeit über ihre Gefühle nachzudenken oder gar zu sprechen, aber geben immer wieder ihr Bestes. Grund genug, dass Becker ihnen ein berührendes, literarisches Denkmal setzt.
Sie bekommen dann noch drei Kinder: Zuerst den zarten Kristof, der sich ähnlich dem Vater zum verschwiegenen Pragmatiker entwickelt und in seinem Heimatort bleibt. Danach Ulla, die aufgrund des Fehlers eines Arztes kurz nach der Geburt stirbt. Für den Schmerz der Eltern, die den Verlust nie verwinden werden, bleibt kein Platz, »nicht in ihrer Zeit, nicht in ihrer Welt«. Becker lässt Uta jedoch aus literarischen Gründen am Leben – ein Gewinn für den Roman.
Sie wird die Tochter sein, die früh das Weite sucht und von Anfang an auch den Mut hat, den »diktatorischen Vater« und die »erpresserische Mutter« zu kritisieren. Die fiktiven Begegnungen Beckers mit ihr im belgischen Seebad Ostende tragen dazu bei, dass der Roman nie Gefahr läuft, die Arbeiterfamilie zu verklären. Der Rassismus des Vaters kommt ebenso zur Sprache wie die Kontrollsucht der Mutter.
Schließlich bekommen sie also noch »den Kurzen«, das Nesthäkchen, das ist der Autor selbst. Er entwickelt seine eigenen Methoden, in der überlasteten Familie Aufmerksamkeit zu bekommen.
Es gelingt dem Vater, ein kleines Reihenhaus zu ergattern, mit Würgeraten, die die Familie Monat für Monat an den Rand der finanziellen Katastrophe führen. Ab und an mal gönnt man sich ein paar Tage Urlaub an der Nordsee, natürlich in einer billigen Ferienunterkunft, die weiter weg vom Meer liegt.
Der Autor selbst schafft seinen bescheidenen Absprung, studiert am Literaturinstitut in Leipzig, erst spät wird ihm aufgehen, dass die Akademikerkinder an ihm vorbeiziehen und er eigentlich immer außen vor war.
Nicht nur das und seine immerwährende Sehnsucht nach dem Meer verbindet ihn mit seiner Partnerin, ebenso ein Arbeiterkind, von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. »Das waren wir«, so schreibt er an anderer Stelle. »Eine Familie aus der Vergangenheit. Aus der Kleinstadt, aus dem Reihenhaus. Das nie ganz uns gehörte.«
Doch gehört diese Existenzform wirklich der Vergangenheit an? Sicher, die Zahl der »malochenden Lohnempfänger« ist seit 1970 um 35 Prozent zurückgegangen, wie der Autor anführt, doch der globale Kapitalismus und die Digitalisierung haben neue ausgebeutete Klassen hervorgebracht, deren Chancen, dem Prekariat zu entkommen, äußerst gering sind. Laut statistischem Bundesamt ist gut ein Fünftel der Bevölkerung Deutschlands von Ausgrenzung oder sozialer Armut bedroht, sieben Prozent davon trotz Lohnarbeit. Lieber noch als berührend-kritische Romane darüber würde man von entschiedenen Maßnahmen dagegen lesen.
Martin Becker: Die Arbeiter. Luchterhand. 304 S., geb., 22 €.
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