»Jenseits aller Dogmen«

Der Karin-Kramer-Verlag war ein 68er-Produkt und bot ein verlässlich linkes Programm. Er bestand bis 2014, als das Ehepaar Kramer verstarb.

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 7 Min.
Diesen Ort gibt es noch: die Kneipe »Der goldene Hahn« in Berlin-Kreuzberg heute
Diesen Ort gibt es noch: die Kneipe »Der goldene Hahn« in Berlin-Kreuzberg heute

Von Wolfgang Neuss stammt das Bonmot, der Alkoholismus sei der dritte Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, offen für jedermann, leicht zu begehen und von schnellem Erfolg gekrönt. Im »Goldenen Hahn« in Kreuzberg schien diese Utopie wahr geworden. In der Kneipe am Berliner Heinrichplatz, der heute nach Rio Reiser benannt ist, war die Welt noch in Ordnung – oder wenigstens begreifbar, aushaltbar. Eine Insel der Seligen mit naturbelassenem Strand, wo einem die Wirklichkeit nichts anhaben konnte. Der Verleger Bernd Kramer hatte hier für seine Autoren jeden Sonnabend gegen 13 Uhr Sprechstunde (nach Absprache). Der bekennende Tresenphilosph war vom Habitus her eigentlich der Inbegriff eines Anarchisten: fast schulterlange Haare, graumelierter Bart, Zigarre – wie Bakunin. Nur dass Bernd Kramer Worte wie Habitus vehement ablehnte, aus dem Stand aber über Heideggers »Sein und Zeit« parlieren konnte, dessen unausweichliche »Geworfenheit« uns an den Tisch links neben der Musikbox gebracht hatte.

Wir sprachen über Bücher, die nie jemand lesen sollte. Manchmal dachten wir uns auch nur die Titel aus. Thomas Kapielski (»je dickens, destojewski!«), der heute bei Suhrkamp verlegt wird, wollte eine Reihe herausgeben namens »Die moderne Frau«. Auf dem Buchrücken sollte neben Titel und Autorin immer noch ein einzelner Buchstabe stehen, was in der Summe dann im Regal den Namen USCHI ergeben hätte – wie genial war das denn? Dafür habe ich Kapielski immer bewundert! Bei Merve hatte er erst die »Gottesbeweise IX-XIII« herausgebracht. Haben alle gestaunt – und mussten im Jahr darauf die »Gottesbeweise I-VIII« kaufen. Alles andere hätte im Bücherschrank zu blöd ausgesehen.

Jenseits aller Dogmen

Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Bernd Kramer war weder misogyn noch Chauvi – als Herausgeber von Emma Goldman, der großen Theoretikerin des Feminismus und selbstredend Anarchistin. Unvergessen auch Kramers Buch über Luise Michel, die auf den Barrikaden der Pariser Kommune gekämpft hatte. Für die Gegenwart aber lehnte der Verleger jegliche Gewalt und Terror ab. Sein Credo: »Ich hasse zu hassen«. Bernd Kramer stand »jenseits aller Dogmen«, wie sein Sohn Daniel sich 2014 nach dem Tod des Vaters erinnerte. Wohl auch deshalb die immer wiederkehrenden Vorwürfe, er bewege sich am »rechten Rand der Anarchie«. So geschehen Ende 1999 bei der Veröffentlichung des Bandes »Laßt uns die Schwerter ziehen, damit die Kette bricht«, über Michael Bakunin und Richard Wagner während der Dresdner Mai-Revolution 1849. Volker Weidermann schrieb in der »Taz«: »Bernd Kramer ist mit seinem anekdotisch-anarchistischen Stil und seinem ungeheuren revolutionär-schwadronierenden Elan ein wunderbares neues Bakunin-Buch gelungen. Kramer liebt Bakunin.« Das mag ja sein, Bakunin war auch nicht das Problem.

Von Bernd Kramer in Erinnerung geblieben ist nicht zuletzt der Klamauk. Mit Kapielski hatte er 1997 die Kampagne gestartet, dass der »Goldene Hahn« ins Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen wird. Leider ohne Erfolg. In der Kneipe »chez Inge« wurde ja nicht nur gesoffen und geraucht, auch gespielt: die Berliner Meisterschaft im »Frommstrudeln« – ebenfalls eine Initiative von Bernd Kramer und Thomas Kapielski. An den Tischen verteilt saßen jeweils vier, fünf Spieler, die der Reihe nach ein aufgeblasenes und mit drei Würfeln gefülltes Kondom schüttelten und auf den Tisch schlugen. Wer die meisten Punkte bekam, hatte gewonnen. Doch Obacht! Bei solcher Art Turnieren sollten die Spieler besser nicht die »naturechten« Präservative verwenden. Infolge allzu starker Inanspruchnahme reißen diese und die Würfel fliegen durch den Raum; Leute können sich verletzen, was zum Glück nicht passiert ist und nun auch schon viele Jahre her.

Der Frommstrudelmeister saß irgendwann später bei uns am Tisch. Franz war eigentlich Maler, verdingte sich aber im Handel nicht ganz legaler Genussmittel. Bernd Kramer schob ihm ein Bücherpaket rüber und bekam als Dank ein Tütchen besonderen Inhalts gereicht. Ware gegen Ware. Und eines der Tauschmittel war mein erster Roman »Affentöter«. Ich also zum Verleger: »Sach mal, hast du hier eben mein Frühwerk gegen Drogen eingetauscht?« – »Was dagegen?« Nicht doch! Und ich tat auch gut daran, seiner Frau gegenüber nichts davon zu erwähnen. Karin Kramer war natürlich der Boss, war Herz und Seele des Verlags und dass ihr Gatte nicht nur Tabak in der Pfeife rauchte, war gemeinhin bekannt.

Libertäres Erbe

Der Karin-Kramer-Verlag stand lange Zeit – ähnlich wie heute vielleicht die Edition Nautilus in Hamburg – für das libertäre Erbe der 68er-Bewegung, für die Utopie jenseits von Staatssozialismus oder Sozialdemokratie. Ein Gründungsdatum ist nicht belegt. Angefangen hatte alles mit einem bizarren Periodikum namens »Linkeck«, benannt nach der Wohngemeinschaft in der Bülowstraße. Ein Westberliner Samisdat, der zwischen 1968 und 1970 erschien, in einer Stückzahl von mehreren Tausend Exemplaren, die oft genug von der Polizei beschlagnahmt wurden. Für Bernd Drücke von der »Graswurzelrevolution« war »Linkeck« hierzulande die erste antiautoritäre Zeitschrift überhaupt. Ein neoanarchistisches Blatt mit blasphemischen Comics, jeder Menge Pornos und Pamphleten gegen die »Einheitsfrontscheiße« des SDS. Und wie es die Legende erzählt, soll sich im selben Zeitraum und in derselben WG irgendwer ein Zubrot verdient haben mit dem Verkauf von Raubdrucken; erst 1970 wurde das Gewerbe offiziell angemeldet. Ein solcher Broterwerb wäre heute unvorstellbar, dass da wer mit dem Bauchladen spätnachts durch die Kneipen zieht und linke Literatur verkauft.

Tatsächlich hat es eine Zeit gegeben, da Linke noch massenhaft Literatur gelesen (und gekauft!) haben. Nur ein Beispiel: Die 60 Titel der Fischer-Taschenbuchreihe vom Werkkreis Literatur der Arbeitswelt erreichten bis 1988 eine Gesamtauflage von über einer Million verkauften Büchern! So gut wie jeder Werkkreis-Titel hatte eine Startauflage von 10 000 Exemplaren! In dieser Zeit gelang auch dem Karin-Kramer-Verlag mit »Ein amerikanisches Gebet« von Jim Morrison ein veritabler Bestseller; über 20 000 verkaufte Bücher! Das Verlagsprogramm prägten aber vor allem anarchistische Klassiker wie Bakunin, Kropotkin und Landauer und natürlich Erich Mühsam. Auf die kritiklose Hingabe weiter Teile der Linken zu irgendwelchen Paradiesstaaten antwortete das Ehepaar Kramer mit kritischen Monografien zur Russischen Revolution, zur autoritären Diktatur des Fidel Castro und selbstverständlich über die Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg.

Ein weiteres Vierteljahrhundert?

Jahr für Jahr haben Karin und Bernd mindestens acht Bücher publiziert. Bei rund 340 Titeln und einer 1000er-Mindestauflage hat der Karin-Kramer-Verlag bis 2014 also einige Hunderttausend libertäre Schmöker unter die Leute gebracht und so dazu beigetragen, dass der Anarchismus-Begriff im politischen Raum präsent bleibt. Niemand weiß, wie in hundert Jahren die Welt aussieht; die Natur besiegt gerade den Kapitalismus – reißt dabei vielleicht aber auch einen guten Teil der Menschheit mit. Die Überlebenden werden sich Gedanken machen müssen, wie sie unter so widrigen ökologischen Bedingungen als Menschen einander aushalten können. In den Bibliotheken werden dann noch immer Bücher aus dem Karin-Kramer-Verlag stehen, die von einem Leben ohne Herrschaft erzählen und von der Freiheit der Individuen nicht voneinander, sondern füreinander.

Der vielleicht beste belletristische Titel des Karin-Kramer-Verlags ging leider völlig unter: Lionel Mareks »Nächstes Jahr in Auschwitz«, eine Romansatire zur jüdischen Diaspora. »Was steht heut auf dem Pogrom?« – Während sich in Frankreich das Feuilleton mit Hymnen überschlug, die »Libération« von »burleskem Ton« schrieb und »kolossaler Finesse«, gab es hierzulande nicht eine Rezension. Die Neunziger … keine Ahnung, was in dieser Zeit geschehen ist, aber irgendetwas muss passiert sein: Die Buchhandelsketten verdrängten immer mehr die kleinen Läden. Seither ist es für linke Literatur sehr schwer geworden. Wer in der linken Szene ein Manuskript verlegt haben will, muss oft genug entweder Publikum mitbringen (Follower und Prominenz) oder Geld für die Druckerei. Dass der Karin-Kramer-Verlag nach dem Mauerfall noch 25 Jahre überstanden hat, war ein kleines Wunder, an das Anarchisten aber nicht glauben – das zweite Wunder, dass die Verlegerin den Krebs besiegte, blieb denn auch aus. Karin Kramer verstarb am 20. März 2014, ihr Mann Bernd folgte ihr ein halbes Jahr später am 5. September.

Im Berliner Quiqueg-Verlag erscheint dieser Tage der erste Band der »Gesammelten Schriften« von Bernd Kramer, herausgegeben von seinem Freund und Komplizen Jochen Knoblauch. Eine Lesung im »Goldenen Hahn« steht an, bei der dann auch Bernd Kramers Tagebuchnotizen gefeiert werden: »So sechs wie wir fünf gibt es keine vier, denn wir drei sind die beiden einzigen.«

Der Karin-Kramer-Verlag stand lange Zeit für die Utopie jenseits von Staatssozialismus oder Sozialdemokratie.

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