Fall Dilan: Einstellung für Angeklagten

Im Berufungsprozess wird das Verfahren gegen Matthias S. eingestellt. Antifaschistisch Aktive sind schockiert

Dilan S. spricht 2022 auf der Demonstration "Schaut nicht weg! Solidarität mit Dilan und allen Betroffenen rassistischer Gewalt!“ in der Nähe des S-Bahnhofes Greifswalder Straße.
Dilan S. spricht 2022 auf der Demonstration "Schaut nicht weg! Solidarität mit Dilan und allen Betroffenen rassistischer Gewalt!“ in der Nähe des S-Bahnhofes Greifswalder Straße.

Der rassistische Angriff auf Dilan S. am 5. Februar 2022 machte bundesweit Schlagzeilen. Die damals 17-Jährige wurde in der Straßenbahn M4 und an der Haltestelle Greifswalder Straße beleidigt, bedroht, geschlagen und an den Haaren gezogen. Der Fall ging viral, weil S. den Angriff filmte. Die Videos zeigten, dass Dutzende Umstehende nicht einschritten. Dilan S. wehrte sich gegen die verbalen und körperlichen Angriffe und veröffentlichte ein Video aus dem Krankenhaus, in dem sie Rassismus als Tatmotiv benannte.

Im Frühjahr 2023 standen sechs Angeklagte vor Gericht, vier von ihnen wurden verurteilt. Die Täterinnen Jennifer G. und Cornelia R. wurden wegen gefährlicher Körperverletzung zu Freiheitsstrafen auf Bewährung verurteilt. Der 14-fach vorbestrafte Heiko S. erhielt wegen Beihilfe sechs Monate. Zwei weitere Täter wurden freigesprochen. Matthias S., der wegen Bedrohung und Beleidigung zu 40 Tagessätzen à 55 Euro verurteilt wurde, erhob Einspruch gegen sein Urteil. Deswegen kam es am Freitag erneut zur Verhandlung, in der das Verfahren eingestellt wurde.

»Mäuschen, pass mal auf, sonst kriegst du eine«, dies oder Ähnliches sagte Matthias S. laut eigenen Angaben an besagtem Februarabend an der Tramhaltestelle in Pankow zu Dilan S. Er behauptet, damit die Situation deeskaliert zu haben. »Ich kenne meine Jenny. Ich habe gewusst, wie die reagiert«, erklärt er am Freitag vor dem Landgericht der Richterin. Was er mit »kennen« meine, fragt die Richterin den Verurteilten. Dieser erwidert, dass Jennifer G. stark alkoholisiert gewesen sei, auch er habe zum Zeitpunkt der Tat bereits einige Bier intus gehabt. G. ist die einzige Verurteilte im Prozess um Dilan S., bei der das Gericht rassistische Aussagen als solche anerkannte. Jennifer G. war zum Zeitpunkt der Tat Betreiberin der »Ariya Lounge« an der Greifswalder Straße, die zwischendurch »Flodder’s« hieß, mittlerweile den Namen »Zum Anker« trägt und für ihr rechtes Publikum bekannt war.

Matthias S. sagt vor Gericht, er habe Dilan S. beschützen wollen. Videomaterial zeigt laut Aussagen der Richterin, wie S. sich zwischen das Opfer und Jennifer G. gestellt habe. Auf dem Arm soll er einen Hund gehalten haben. Mit Jennifer G. hat S. laut eigenen Angaben keinen Kontakt mehr.

In einer Verhandlungspause fragt die im Prozess als Zuschauerin anwesende Gabriele Denis den Angeklagten, ob er die Leute aus der Kneipe noch treffe. »Nee«, entgegnet S. Denis ist bei den Omas gegen rechts aktiv und erzählt »nd« von den vergangenen Prozesstagen: »Bemerkenswert war, wie schnell Dilan vom Opfer zur Täterin gemacht wurde und die Tat nicht als Gruppentat bestraft wurde.« Denis ist beeindruckt von dem Mut der jungen Frau.

Dilan S. ist als Zeugin geladen, bleibt der Verhandlung jedoch wie auch eine andere Zeugin unentschuldigt fern. Die einzige Zeugin, die erscheint, ist Jennifer G., die vor Gericht wiederholt erklärt, kaum Erinnerungen an die Tat zu haben. Sie sagt, sie habe nicht gehört, was Matthias S. gesagt habe, ob er etwas gesagt habe oder ob er seine Hand gegen Dilan S. erhoben habe.

Im Laufe des Prozesse erklärt die Staatsanwaltschaft, den Angeklagten mit einer milderen Geldstrafe belegen zu wollen. Sie stellt auch in Frage, inwiefern die Tat strafrechtlich relevant sei. Als dann die Richterin in den Raum stellt, Dilan S. und die andere ferngebliebene Zeugin mit einem Ordnungsgeld von 200 Euro zu belasten, regt sich Tumult auf der Bank der Zuschauenden. Die Richterin bittet um Ruhe und sagt den Anwesenden, dass sie nicht wissen könnten, was passiert ist. »Und Sie wissen es?«, fragt eine anwesende Zuschauerin. Daraufhin unterbricht die Richterin die Verhandlung und verweist auch die anwesende Presse des Raumes.

Nach einer Pause verkündet die Richterin, dass das Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt wird. Eine Beleidigung könne das Gericht nicht erkennen. Ob Matthias S. das Opfer bedroht habe, lasse sich schwer beurteilen. Damit ist Matthias S., der im gesamten Verfahren als einziger ohne Verteidigung erschien, von seiner Geldstrafe befreit.

»Wir sind wütend und schockiert«, sagt eine der anwesenden Zuschauer*innen zu »nd«. Sie spricht für die Initiative »Schaut nicht weg«, die am Freitag zur solidarischen Prozessbegleitung aufgerufen hat. Die Initiative sieht viele Parallelen zwischen dem heutigen Prozesstag und denen im vergangenen Jahr. Komplett unverständlich sei der Initiative, dass »Mäuschen« nicht als Herabwürdigung erkannt werde. An den Prozesstagen im vergangenen Jahr waren laut Aussagen der Initiative mindestens zwei bekannte Rechtsextreme Zuschauer. »Es braucht nun konsequente antifaschistische Aktion und nicht nur Aufrufe zur Zivilcourage«, fordert die Initiative, die einen Anstieg rechter Gewalt im Nordosten Berlins beobachtet. »Wir gehen von einem vermeintlichen Wechsel der Betreiber im ›Zum Anker‹ aus. Nachbar*innen beobachten jedoch dieselben Menschen hinter und vor dem Tresen wie vor dem Namenswechsel.«

»Es braucht nun konsequente antifaschistische Aktion.«

Initiative »Schaut nicht weg«
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