Geht in die Städte!

Das Mainzer Open-Ohr-Festival gratuliert sich in einem Jubiläumsband zum 50. Geburtstag

Wissenschaftler haben herausgefunden: Der beliebteste Punkt beim Open Ohr Festival ist der Drususstein auf der Mainzer Zitadelle.
Wissenschaftler haben herausgefunden: Der beliebteste Punkt beim Open Ohr Festival ist der Drususstein auf der Mainzer Zitadelle.

BRD 1975: Im Kino läuft »Der weiße Hai«, im Fernsehen startet Didi Hallervordens »Nonstop Nonsens«, und die Charts werden angeführt von Udo Jürgens (»Griechischer Wein«). Und die Gegenkultur? Später wird Tilman Rossmy von der Band Die Regierung in dem Lied »1975« singen: »Du magst keine Polizisten/ du magst keine Männer in Anzügen/ und du hasst dieses ganze Schweinesystem.« Mit einer ähnlichen Haltung fand Pfingsten 1975 in Mainz das erste »Open Ohr« statt, ein Kultur- und Musikfestival, das dieses Jahr 50. Geburtstag feierte – ohne Intendanz und ehrenamtlich von einer unabhängigen Projektgruppe organisiert, was ziemlich einzigartig ist.

Bis heute wird es als Non-Profit-Veranstaltung abgesichert von den fortschrittlichen Teilen der Lokalpolitik und gefördert von der Stadt Mainz, zuständig ist der Sozialdezernent. Auch wenn die CDU verschiedene Anstrengungen unternommen hat, dieses stets linke Festival zu schwächen bzw. abzuschaffen (gescheitert 1994), kann sie inzwischen nicht umhin, es als regionales Markenprodukt anzuerkennen, das heute so gar nicht mehr erfunden werden könnte.

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Im Jubiläumsband »Wer jetzt nicht tanzt«, herausgegeben vom Open-Ohr-Verein, wird der Soziologe Detlef Siegfried zitiert: »Sich nicht mehr auf die revolutionäre Gesellschaft von morgen vertrösten lassen, sondern jetzt leben«, das sei Mitte der 70er die Devise vieler Aktivisten gewesen, als sie in Fortführung von 1968 die BRD von links liberalisierten und erträglicher machten. Auf dem Festival »sollte nicht nur Musik gehört werden, nicht einfach nur konsumiert werden, sondern alles aus verschiedenen Gesichtspunkten hinterfragt werden«, fasst im Buch der Ende 2023 verstorbene Mitgründer und Radiojournalist Tom Schroeder die damalige Intention zusammen.

»Geht in die Städte« lautete die Parole, um mit denen zu diskutieren, »die es angeht«, erzählt der Sänger und Jugendpfleger Uli Holzhausen, ebenfalls ein Mitgründer. Schon vorher hatte es die Festivals auf Burg Waldeck gegeben; da war zwar das kritische Liedermachertum erfunden worden, aber man war sehr unter sich geblieben: Künstler, Hippies, Intellektuelle, die mehr oder weniger ähnlich tickten. Als der Grafiker Reinhard Hippen das erste Plakat gestaltete, kam er auf den Titel »Open Ohr« statt »Open Air«, und das sollte gerade nicht heißen: zum einen Ohr rein, zum anderen Ohr raus, sondern das Gegenteil.

Die Festivals haben keine Motti, sondern Themen, die vielfältig bearbeitet werden. Eine kleine Auswahl: »Mit und ohne Arbeit« (1977), »Keiner kann! Was tun?« (1982), »Die rechtsschaffende Mitte« (2001), »Heimat – was zum Kuckuck?!« (2016) oder »Wegwerfware Mensch« (2017). Als der Ostblock zusammengebrochen war, hieß das Thema »Eine Welt – brennt«, um »Not und Schönheit des havarierenden Raumschiffs Erde« zu verhandeln.

Die politische Spannbreite der Leute, die so etwas beredeten, reichte von Heiner Geißler bis Thomas Ebermann, musikalisch ging es von Hannes Wader bis zu den Toten Hosen und Nina Hagen. Außerdem gab und gibt es Theater, Kabarett und Workshops für jährlich 9000 bis 11 000 Besucher*innen auf dem Gelände der Mainzer Zitadelle oberhalb des Stadtgebiets, wo sich die nachbarlichen Beschwerden über zu viel Lärm in Grenzen halten.

Das allererste Festival wurde »Hits & Antihits« genannt, Schlager sollte auf Liedermaching treffen, Marianne Rosenberg und Peter Horton auf Dieter Süverkrüp und Christof Stählin – das funktionierte überhaupt nicht. Den Plan, Schlagerfans auf so ein Festival zu locken, nannte Reinhard Hippen später »eine ziemlich bescheuerte Idee«.

Wesentlich erfolgreicher waren über die Jahre die inhaltlichen Auseinandersetzungen mit den Oberbegriffen »Arbeit«, »Fremdenfeindlichkeit« und »Angst«, die Monika Mühlhausen in der sehr übersichtlichen, fast wie ein Schulbuch gestalteten Jubiläumspublikation als »drei urdeutsche Themen« vorstellt. Auch sie war Mitglied der Projektgruppe, in der von 1976 bis 1984 ihre Vornamensvetterin Monika Winhuisen tatsächlich die einzige Frau gewesen ist. Trotzdem vollzog das Festival in den 2010er Jahren eine Entwicklung von »der Gleichstellung zur Diversität«, stellt die Journalistin Sabine Giehle fest, sodass heute die Frage lauten würde: »Wie divers ist die Projektgruppe?«

Gefragt, ob das Bühnenteam ein besonderes Ritual entwickelt habe, antwortet der Stage-Manager Volker Seidler: »Nicht ein konkretes Ritual – aber immer eine große Tüte Bonbons. Das Festival selbst ist das Ritual.«

Open-Ohr-Verein: Wer jetzt nicht tanzt. 50 Jahre Open Ohr Festival, Ventil-Verlag, 176 S., geb., 20 €.

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