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»Exile never ends« im Kino: Wie ist es, heimatlos zu sein?

Der Dokumentarfilm »Exile never ends« von Bahar Bektaş ist eine persönliche Reflexion der eigenen Familiengeschichte

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 4 Min.
»Exile never ends« schaut hinter die Kulissen einer der vielen Einwanderergeschichten.
»Exile never ends« schaut hinter die Kulissen einer der vielen Einwanderergeschichten.

An diesem Donnerstag startete in den deutschsprachigen Kinos der Film »Exile never ends«, ein Dokumentarfilm, der sowohl beim Dok.fest in München, als auch beim Max-Ophüls-Filmfestival mit Preisen bedacht wurde.

Der Film der Regisseurin Bahar Bektaş ist eine sehr persönliche Reflexion der eigenen Familiengeschichte und des Gefühls, heimatlos zu sein, in einem dauernden Zustand des Exils zu leben oder sich zumindest so zu fühlen – und der vielleicht eindrücklichste Effekt des Films ist, dass man hier der Geschichte einer Familie folgt, die so erstaunlich assimiliert und deutsch wirkt, dass man sich in ihr auch als deutsches Bürgerkind zunächst wiedererkennt. Die drei erwachsenen Kinder der Familie Bektaş sprechen Deutsch mit leicht oberbayerischem Akzent; zwei von ihnen, Onur und Regisseurin Bahar selbst, arbeiten und halten den Kontakt zu den Eltern. Auf den ersten Blick eine typisch deutsch-bürgerliche Migrantenfamilie.

Doch die kurdisch-alevitische Familie Bektaş ist nicht biodeutsch, wie es so unschön heißt. Die Eltern mussten, als die Kinder klein waren, vor politischer Verfolgung aus der Türkei fliehen, Bahar musste, wie wir erfahren, als Kleinkind sogar einige Monate lang von Nachbarn betreut werden, weil der Vater wegen linkspolitischer Aktivitäten im Gefängnis saß und die Mutter mit Arbeit und Kinderbetreuung überlastet war.

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Heute sitzt der älteste Sohn der Familie, Taner, wegen offensichtlich allerlei krimineller Umtriebe eine Haftstrafe ab und hat nun seine eigene Abschiebung in die Türkei beantragt, wodurch er, so die Hoffnung, schneller freikommt. »Exile never ends« zeigt in erster Linie, wie die Familie sich für Taner einsetzt, zu ihm steht, ihm helfen will, damit überfordert ist und angesichts der Familien-Katastrophe die eigene Geschichte reflektiert und dabei zusammenfindet. In der letzten Einstellung des Films haben die Mutter und die beiden Geschwister den nach wie vor eingesperrten Taner per Videokonferenz zugeschaltet und sitzen auf Gartenstühlen am Strand in der Türkei. »Taner soll das Meer sehen«, sagt Bahar, und ihr Bruder Onur bestätigt: »Ja, er sieht es.«

»Exile never ends« schaut hinter die Kulissen einer der vielen Einwanderergeschichten, die in der aufgeheizten politischen Diskussion dieser Tage um Flüchtlinge und Abschiebungen und hinter Zahlen über kriminelle Ausländer verschwinden. Die Doku zeigt zudem, dass auch »kriminelle Ausländer« Menschen sind, mit Angehörigen, die an der Situation leiden und die den Bruder und Sohn lieben und vermissen.

Dass Taner kriminell wurde, räsoniert sein Vater im Film, habe indes viel damit zu tun, dass er, obwohl talentiert und ehrgeizig, in Deutschland den Anforderungen der bürgerlich-kapitalistischen Leistungs- und Konkurrenzideologie als Flüchtlingskind kaum gewachsen war: »Sein größtes Problem war, dass er sich minderwertig fühlte. Er wollte immer reich sein. Er mochte nicht, was er war. Er mochte seine Kleidung nicht, er hatte einen Minderwertigkeitskomplex. Er sagte immer, er schäme sich, Freunde mit nach Hause zu bringen. Für einen Vater hört sich das wie eine Beleidigung an, wie ein Vorwurf. Aber wir haben nie etwas gesagt. Er hat die Menschen ausgenutzt, um reich zu werden. Er dachte, er müsse das tun, um reich zu werden.«

Spätestens hier enden die Gemeinsamkeiten der autochthonen Bürgerkind-Erfahrungen und der Flüchtlingsfamilie. Stattdessen erkennen wir, welche Traumatisierungen und Identitätskonflikte solche Inferioritätserfahrungen mit sich bringen. Auch Taners kleiner Bruder Onur kämpft damit, besonders weil auch er sich mit anhaltenden Schikanen der deutschen Bürokratie herumzuschlagen hat, obwohl er über eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung verfügt und seit über 20 Jahren in Deutschland lebt. »Ehrlich gesagt, ist mir alles scheißegal«, sagt Onur einmal im Gespräch mit seiner Schwester. »Ich lass mich nicht einschüchtern von denen. … Wenn sie mich abschieben, schieben sie mich ab, darf ich dablieben, bleib ich da. Mir egal.«

Der Film zeigt die Realität von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Deutschland ungeschminkt und dekonstruiert damit ziemlich schmerzhaft auch die Ideologie von Willkommenskultur und deutscher Gastfreundschaft. Davon hat die Familie Bektaş jedenfalls wenig erfahren, im Gegenteil berichten Mutter und Tochter von mehreren Nazi-Angriffen auf sie während ihrer Zeit in einem bayerischen Asylbewerberheim.

»Exile never ends« zeigt drastisch, was Fluchterfahrung, Ablehnung und Konkurrenz-Ideologie anrichten, welche Katastrophe die Ausgrenzung von Hilfesuchenden verursacht und wie sehr die Menschen unter dem Zustand des Nicht-Dazugehörens leiden. Regisseurin Bahar Bektaş, die im Film versucht, die Familie zusammenzuhalten, den beiden strauchelnden Brüdern Halt und Optimismus zu geben, bricht irgendwann selbst zusammen und weint hemmungslos. Überhaupt laufen viele Tränen in »Exile never ends«.

Dass der Film keine Gefangenen macht, die Gnadenlosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber ihren schwächsten Mitgliedern vorführt und deren Leiden schonungslos und in Nahaufnahme zeigt, macht das Werk auch zu einem Stück schwerer, trauriger, aber sehr sehenswerter dokumentarischer Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie.

»Exile never ends«, Deutschland 2024. Regie und Buch: Bahar Bektaş. 100 Min. Jetzt im Kino.

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