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Wien von unten: Der Kanal ruft
Wien aus der Sicht der Unterwelt – auf den Spuren des Filmklassikers »Der dritte Mann«
Die Altstadt von Wien, der Schriftzug in roten Lettern ist nicht zu übersehen: »3.-Mann-Tour«. Wir stehen am zentralen Girardipark. Links die Polizeiinspektion Wien, rechts die berühmte Secession. Um uns herum: Jugendstilgebäude, hinten die barocke Karlskirche. Ein Fiaker fährt vorbei am Mahnmal für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus. Und zu unseren Füßen, tief im Verborgenen, liegt der Wienfluss mit seiner Geschichte.
Unterhalb der Oberwelt wartet ein 2500 Kilometer langes Kanalsystem. »Das wichtigste Hygienezentrum der Stadt«, sagt Tourguide Sebastian, der eigentlich Schauspieler ist und seinen vollen Namen nicht nennen mag. Heute wird er eine Gruppe von 15 Personen durch ein Labyrinth von gemauerten Gängen und Tunneln führen – dorthin, wo die Abwasserkanäle der Stadt zusammenlaufen. Vorher zeigt er eine Abbildung aus dem 19. Jahrhundert. Man erkennt: Der Fluss ist ziemlich blau! Warum? »Sämtliche Abwässer flossen damals ungeklärt direkt in den Fluss«, erklärt Sebastian. Vor der Stadtmauer gab es Gerbereien und anderes verschmutzendes Gewerbe. Von daher sei der Fluss eine bunte und stinkende Kloake gewesen. »Aus der immer so schöne Gasblasen aufgestiegen sind, die die Kinder mit Vorliebe angezündet haben. Ein verbürgtes Kinderspiel von damals.« Feuerwerk für Arme.
Von der Oberwelt in die Tiefe
Bevor es hinuntergeht, bekommen jeder und jede einen Helm, ein Haartuch und eine Lampe; einigen sieht man die Aufregung an, für andere scheint es gar eine Mutprobe zu sein angesichts dessen, was uns unten erwartet: Kloaken, stinkende Gerüche, vielleicht Ratten? Dann geht es los zum Originaldrehort von »Der Dritte Mann«: ein achteckiger Einstieg mit sternförmig-spitzen, dreieckigen Platten aus Edelstahl, die sich quietschend öffnen und eine steile Wendeltreppe freigeben – sieben Meter tief unter die Erde. Von hier flüchtete einst Orson Welles als skrupelloser Schwarzmarktganove Harry Lime hinab ins unterirdische Abwassersystem. Den Sterndeckel gibt es noch immer. Ganz wie im Film.
Wien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Die halb zerstörte Stadt ist wie Berlin unter den vier Alliierten in Sektoren aufgeteilt. Der Schwarzmarkt blüht, Hunger und Verzweiflung machen sich breit. Joseph Cotten spielt den US-Amerikaner Holly Martins. Der Autor billiger Westernromane wird nach Wien eingeladen – von seinem alten Freund Harry Lime, gespielt von Orson Welles.
So beginnt einer der berühmtesten Nachkriegsfilme aus dem Jahre 1949. »Der Dritte Mann«, das Drama um Korruption, Verrat, Mord und verschmähte Liebe, gilt nicht nur als Schwarz-Weiß-Klassiker. Das British Film Institute kürte ihn 1999 zum besten britischen Film aller Zeiten. Kontrastreich ausgeleuchtete Szenen, ausgeklügelte Licht-und-Schatten-Effekte in Treppenhäusern und die Showdown-Verfolgungsjagd durch die Wiener Kanalisation machten ihn zu einem Meisterwerk des Film noir.
Schon damals war Orson Welles für seine Allüren bekannt. Der Hollywood-Star hatte mit »Citizen Kane« bereits einen Oscar gewonnen. Belegt ist, dass sich Welles für einige Szenen doubeln ließ und dass einige Kanalszenen im Londoner Studio nachgebaut und gedreht wurden. Der Regisseur der Hörfunkadaption von »War of the Worlds« soll sich grantelig benommen haben, als es darum ging, hier unten im Kanal-Set zu schauspielern. »Man musste Wände mit Seife reinigen, bevor er überhaupt runtergegangen wäre«, erzählt Sebastian. Welles habe sogar Parfum versprühen lassen, um in der Unterwelt zu arbeiten. Wahrheit oder Dichtung?
Filmgeschichte im Wiener Untergrund
Weiter geht es entlang klammer Ziegelwände, um die Originalschauplätze zu inspizieren. Im matten Licht der Helmleuchten schreiten wir über feuchte Metallroste. Wasser tröpfelt vom Gewölbe, im Hintergrund hört man ein diffuses Wasserrauschen. Der Kanal riecht erstaunlich erträglich. In der riesigen, 20 Meter langen und sechs Meter hohen Überlaufkammer des Kanalsystems wird ein kurzes Film-Best-of an die Wand projiziert. Trotz Halbschatten unverkennbar: das Gesicht von Welles. »Ihm selber hat man 100 000 Dollar oder eine Gewinnbeteiligung angeboten. Wofür hat er sich entschieden?«, fragt der Guide in die Runde. Na klar, für die Dollar! Nur Bares ist Wahres. Welles war chronisch in Geldnot, lebte immer über seine Verhältnisse und glaubte auch nicht an den Erfolg des Films.
Auch bei den Wienern traf der Nachkriegsthriller zunächst auf keine große Gegenliebe; er lief nur in wenigen Kinos und bekam zudem schlechte Kritiken in den Zeitungen. Über die Jahre habe sich das allerdings geändert, erklärt Sebastian. Heutzutage kämen Touristen, aber auch Wiener Geschichts- und Filminteressierte, die fasziniert seien von dem, was man eben nicht sieht: die Stadt unter der Stadt, zu der man gewöhnlich keinen Zugang hat.
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Während der Guide humorvoll so manches Produktionsdetail zum Besten gibt, geht es weiter durch enge Gänge, ein Labyrinth aus Tunneln, spärlich beleuchteten Alleen mit runden Gewölbedecken und kaum menschenhohen Gassen. Es hallt und gluckst, tropft und modert im Dunkel der Unterwelt. Bereits 1739 hatte Wien als erste europäische Hauptstadt ein Kanalnetz. Unbehelligt rauscht der Wienfluss, den Ingenieure dann Ende des 19. Jahrhunderts unter die Stadt verbannten. Auf Höhe der Manner-Fabrik riecht es süßlich. Weil Schokolade für die Neapolitaner-Schnitten produziert werde, erklärt Sebastian. Auch deshalb sähe die Abwasserbrühe hier dunkel wie Zartbitter aus.
Das Wiener Kanalnetz
Derzeit kümmern sich 200 Mitarbeiter der städtischen Firma Wien-Kanal um Erhalt und Funktionsfähigkeit des Abwassersystems. Um 1900 war die soziale Situation in Wien katastrophal. Obdachlose wohnten hier unten in den Abwasserkanälen. Wovon die Unglücklichen gelebt hätten, will ich wissen. Von allem, was den Bewohnern der Oberstadt ins Waschbecken oder in die Toilette gefallen sei: Halsketten, Broschen oder Ohrringe, die von den Unterirdischen gesucht und gesammelt worden seien, sagt Sebastian. Das meiste sei Altmetall gewesen, irgendein Schrott, den man damals weiterverkauft habe.
Bei Regen, wenn die Kapazität der Kläranlagen nicht ausreicht, treten die Abwässer über die Überlaufwehre und donnern aus seitlichen Maueraussparungen in zentrale Tunnel. In weniger als zwei Minuten könne der Pegel so ansteigen, dass es unmöglich sei, hier zu laufen, erklärt ein Kanalarbeiter, der den Tross begleitet. Zwei Regeln seien deshalb überlebenswichtig: Niemals bei Regen in die Kanäle steigen. Und das unterirdische Abwassersystem sofort verlassen, wenn Regen einsetzt.
Am Ende der Tour ist in den Tunnelgängen Zithermusik zu hören: Heurigenlieder, also Musik, die in Wiener Lokalen beim Weinausschank gespielt wird. Anton Karas hatte sie für »Der Dritte Mann« komponiert. »Auch das ist eine Märchengeschichte. Weil der Karas ein Arbeiterbub aus dem 20. Bezirk war. Der wurde quasi mit dem Regisseur Carol Reed verkuppelt«, weiß Sebastian zu berichten. Und Reed hatte ein Gespür für die schwingenden Saiten von Karas.
Von der Unterwelt zurück ans Tageslicht
Die Zither kannte kaum ein Mensch außerhalb Österreichs, allenfalls in Süddeutschland und in der Schweiz war sie ein Begriff. Aber sonst waren Instrument, Sound und Volksmusikweisen völlig unbekannt. Es heißt, Regisseur Reed habe Karas zufällig in einem Lokal spielen gehört, ihn sofort für den Film engagieren und nach London holen wollen. Aber Karas habe immer vom Heimweh geredet und von seiner Flugangst. Und was haben die Produzenten gemacht? »Für die Ehefrau von Karas einen Pelzmantel auf dem Schwarzmarkt gekauft, und schon ging es mit dem Flugzeug nach London.« Dort wurde von morgens bis abends gearbeitet, Karas wurde mit dem Soundtrack weltbekannt. Seine Flugangst überwand er und landete in den USA und Großbritannien einen Hit. Rund um die Welt ging es für den Wiener auf eine zweijährige Tournee.
Das Filmende ist bekannt. Orson Welles mit seinem diabolischen Charme des Bösen taucht ab in das unterirdische Labyrinth der Wiener Kanalisation, eine Hetzjagd beginnt durch weitverzweigte Schächte und Tunnel, über Stufen und Leitern, ihm hinterher die internationale Polizei der Besatzungsmächte. Schließlich wird er gestellt und erschossen. Für uns geht es nach 60 Minuten wieder nach oben. Frische Luft, blauer Himmel. Sebastian rät zu Sachertorte mit Schlagobers im Kaffeehaus.
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