Geschichte Chinas: Eine Reihe großer Sprünge

In »Der kommunistische Weg in den Kapitalismus« zeigt Ralf Ruckus die politischen Umwälzungen Chinas als Geschichte eingehegter Klassenkämpfe

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 7 Min.
Soldaten der Volksarmee stürmen 1989 den Platz des Himmlischen Friedens in Peking, auf dem Studierende für Demokratisierung demonstrierten, und richteten ein Blutbad an.
Soldaten der Volksarmee stürmen 1989 den Platz des Himmlischen Friedens in Peking, auf dem Studierende für Demokratisierung demonstrierten, und richteten ein Blutbad an.

Im Jahr 1964 erschien in Italien eine bemerkenswerte neue Zeitschrift: »Classe Operaia«. Gegründet wurde sie von einigen dissidenten marxistischen Theoretiker*innen, um mit den reformistischen Praktiken der sozialistischen vor allem aber der kommunistischen Partei Italiens zu brechen und zukünftigen proletarischen Bewegungen eine neue Grundlage zu geben. Einer ihrer Herausgeber und wichtigster Theoretiker, Mario Tronti, formulierte darin die neue Richtung, die man bald Operaismus nennen sollte.

In seinem programmatischen Artikel »Lenin in England«, der praktisch allein die gesamte erste Nummer füllte, drehte der Philosoph die Prämissen des Historischen Materialismus kurzerhand um: Nicht die Entwicklung der Produktivkräfte und der darauf fußenden Produktionsverhältnisse würden den Rahmen für die Klassenkämpfe im Kapitalismus darstellen, sondern die Verhältnisse müssten im Gegenteil als Produkte aktueller und vergangener Kämpfe begriffen werden. »Der Ausgangspunkt des neuen Diskurses sagt uns«, so Trontis These damals, »dass auf nationaler und internationaler Ebene die aktuell besondere politische Situation der Arbeiterklasse eine bestimmte Entwicklung des Kapitals bestimmt und erzwingt«. Nur »im Licht dieses Prinzips« sei »das gesamte Netz sozialer Beziehungen in der Welt zu begreifen« – und die soziale Revolution vorzubereiten.

Dieser weitgehend vergessene Ansatz bildet für den Aktivisten und ausgewiesenen China-Kenner Ralf Ruckus in seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch »Der kommunistische Weg in den Kapitalismus« den Rahmen, auch die Geschichte der Volksrepublik China neu zu interpretieren. »Entscheidende Umbrüche in der Zeit seit 1949«, heißt es in dem bereits 2021 in englischer Sprache vorgelegten Werk, »gehen auf die wiederholten proletarischen oder bäuerlichen Proteste sowie die anschließenden Eindämmungsmaßnahmen und Strukturreformen des Regimes zurück«. Und auch wenn diese Revolten die autoritäre Herrschaft der Kommunistischen Partei (KP) nicht hätten beenden können, so seien die »tiefgreifenden Veränderungen in den jeweiligen Formen der Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung« ohne sie kaum zu verstehen, wie Ruckus gleich mehrfach verdeutlicht.

Geschichte der Klassenherrschaft

Im Zentrum seiner Untersuchung stehen dementsprechend die Zäsuren, die die folgenden Perioden in der Geschichte der Volksrepublik einleiteten. Ruckus unterscheidet vier Epochen der Entwicklung: Den entscheidenden Bruch sieht er in der 1978 durch Deng Xiaoping verkündeten Politik von »Reform und Öffnung«, in dem viele Linke den Übergang eines (staats-)sozialistischen Systems in den Kapitalismus verorten. Allerdings bestanden für Ruckus sowohl vor der sozialistischen als auch vor der kapitalistischen Phase jeweils Übergangsperioden.

Der Übergang zur sozialistischen Phase sei etwa erst Mitte der 50er Jahre mit der »Hundert-Blumen«-Bewegung und dem »Großen Sprung nach vorn« beendet gewesen, während die wirkliche Implementierung kapitalistischer Produktionsverhältnisse erst auf die Mitte der 90er Jahre falle. In diesen Übergangsperioden sei es der äußerst flexibel agierenden KP jeweils gelungen, eine neue Klassengesellschaft zu etablieren und ihre Herrschaft zuerst auf eine »sozialistische und bürokratische herrschende Klasse und schließlich auf eine kapitalistische herrschende Klasse« zu stützen.

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Unabhängig davon, ob man dieser Einteilung folgt: Mithilfe und nach Auswertung einer kaum zu überblickenden Masse an Literatur gelingt es Ruckus in den vier Hauptkapiteln des Buches, deren Takt sich nach der Periodisierung richtet, einen dichten und gut lesbaren Überblick über die Geschichte der Volksrepublik darzubieten, der seinesgleichen sucht. Auf etwas mehr als 150 Seiten werden nicht nur die politischen Entwicklungen, sondern auch die jeweiligen Klassen- und Geschlechterverhältnisse nachgezeichnet.

Ruckus kann hier auf über ein Jahrzehnt seiner intensiven wissenschaftlichen und aktivistischen Arbeit zurückgreifen, die ihn nicht nur zu den Bergen an Literatur führte, in deren Folge er selbst mehrere gewichtige Studien übersetzte. Seine diversen längeren Aufenthalte waren auch geprägt durch eigene politische Interventionen, die auf der von ihm betriebenen Website gongchao.org (Arbeiterkampf) dokumentiert sind, sowie einen intensiven Erfahrungsaustausch mit »unzufriedenen Arbeiter:innen, rebellischen Frauen und linken Aktivist:innen«, wie er betont.

Welche Rolle spielen die Kämpfe?

Weniger überzeugend fallen dagegen die Nachweise bezüglich der Kernthese des Buches aus, dass es die sozialen Unruhen und deren Eindämmung gewesen seien, die den Gang der Ereignisse bestimmt hätten. Denn insbesondere für die von ihm konstatierten Brüche in der Geschichte der Volksrepublik scheinen die sozialen Auseinandersetzungen keinen qualitativ neuen oder gar eruptiven Charakter angenommen zu haben. So klingt es zwar nachvollziehbar, dass die KP-Führung um Mao Zedong die Streiks in einigen Betrieben und Hochschulen Shanghais, die Ende 1956 ausbrachen, als Auftakt kommender Streikwellen aufgriff. Dass aber diese Ausstände von kaum 100 000 Arbeiter*innen und die Proteste an 30 Schulen oder Universitäten, die zudem regional auf Shanghai begrenzt blieben, der Führung in Peking die Umsetzung des Programms der Dezentralisierung der Produktion, wie es dann im »Großen Sprung nach vorn« gipfelte, nahegelegt hätten, scheint doch zu weit hergeholt.

Dies gilt ebenso für die beiden anderen Zäsuren. So waren die sich 1974 verdichtenden Streiks und Aufstände durch die Repressionsmaßnahmen bereits längst niedergeschlagen, als sich Deng Xiaoping an seine Wirtschaftsreformen machte. Und auch die aufkommende Demokratiebewegung, die sich zudem zunächst von Deng gegen die innerparteiliche »Linke« um Maos Witwe Jiang Qing und ihre »Viererbande« hatte instrumentalisieren lassen, stellte kaum einen so großen Machtfaktor dar, mit dem sich die Reformen erklären ließen.

Für die frühen 90er Jahre schließlich weist Ruckus auf diverse Unruhen auf dem Land und von Arbeiter*innen in Staatsbetrieben hin, die sich den Enteignungen oder dem Verlust von Arbeitsplätzen und der damit zusammenhängenden sozialen Absicherung verzweifelt entgegengestellt hätten. Warum die KP, wäre es nur um Eindämmung gegangen, auf diese ausgerechnet mit dem Fortgang der Privatisierungen hätte reagieren sollen, erschließt sich allerdings kaum.

Die beiden größten Wellen sozialer und politischer Kämpfe führten gerade nichtzu Brüchen inden Klassenverhältnissen.

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Hinzu kommt, dass die beiden größten Wellen sozialer und politischer Kämpfe in der Geschichte der Volksrepublik – die Kulturrevolution Mitte bis Ende der 60er Jahre sowie die Demokratiebewegung der 80er Jahre – gerade nicht zu Brüchen in den politischen und Klassenverhältnissen führten. Beide Bewegungen behandelt Ruckus intensiv. Und für beide weist er auch auf die teils spontanen und proletarischen Bewegungen und Aufstände hin, die sich in ihnen entfalteten. In Anlehnung an Wu Yichings Buch »Die andere Kulturrevolution«, das Ruckus selbst übersetzt und herausgegeben hat, etwa konstatiert er, dass die von Mao zunächst mobilisierten Rebell*innen über dessen Absicht hinaus »ein Ende der sozialen Ausgrenzung und wirtschaftlichen Ausbeutung durch die ›roten Kapitalisten‹« gefordert hätten.

Doch struktureller Natur?

Warum die KP aus dieser sehr vertrackten Situation ohne größere Veränderungen und mittels Repression und Kooption einzelner Kader der Bewegung herauskam, während sie auf vergleichsweise geringfügige Anlässe mit einer Veränderung der bisher gültigen Parameter reagierte, scheint kaum nachvollziehbar – zumindest dann nicht, wenn man Ruckus’ Grundthese folgt.

Ein wenig zumindest scheint dies dem Autor selbst aufzufallen. So ordnet Ruckus schließlich die Rückkehr zum Kapitalismus dann doch verallgemeinernder ein: »Der Weg, der in den 1950er Jahren begann und ursprünglich vielleicht zum Kommunismus führen sollte«, schreibt er, »geriet zu einem Umweg, auf dem das Land grundlegend verändert und in das kapitalistische Weltsystem integriert wurde«. Als »weder geplant noch zufällig« bestimmt Ruckus diesen Prozess und als Resultat »struktureller Elemente (…) sowie sozialer, politischer und wirtschaftlicher Triebkräfte«.

Vermutlich wird man bei der Suche nach den Motiven der diversen Wendungen der KP-Führung und dem schließlich erfolgten Weg in den Kapitalismus auf der Ebene der strukturellen Verhältnisse eher fündig werden. Aber auch für diese Suche dürfte sich Ruckus’ Buch als ausgesprochen wertvoll erweisen.

Ralf Ruckus: Der kommunistische Weg in den Kapitalismus. Wie soziale Unruhen und deren Eindämmung die Entwicklung Chinas seit 1949 vorantrieben. Dietz Berlin, 300 S., br., 20 €.

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