Tun oder lassen?

Die Initiative »Klug entscheiden« setzt sich für die Reduktion überflüssiger medizinischer Leistungen ein

Ein Patient bekommt die Elektroden für ein EKG angelegt. Die Aufzeichnung der Herzströme verrät, ob zum Beispiel Arryhtmien vorliegen. Dann können Medikamente nötig werden – oder auch nicht.
Ein Patient bekommt die Elektroden für ein EKG angelegt. Die Aufzeichnung der Herzströme verrät, ob zum Beispiel Arryhtmien vorliegen. Dann können Medikamente nötig werden – oder auch nicht.

»Lass das lieber von einem Arzt abklären!« – so lautete jahrzehntelang ein guter Rat. Dann wurde dieses und jenes untersucht, häufig wurden auch Medikamente verschrieben. Bei manchen Zeitgenossen scheint die Befriedigung über ärztliche Aufmerksamkeit schon wichtiger als der tatsächliche Leidensdruck, und das Ego wächst mitunter mit der Zahl von Eingriffen oder der Menge der Verordnungen. Die Tendenz, im Interesse des Patienten nichts unversucht zu lassen, kann jedoch auch zu einer Überversorgung führen – und am Ende sogar der Gesundheit schaden.

Ein systematisches Gegensteuern von medizinischer Seite gibt es noch nicht lange. 2011 startete das American Board of Internal Medicine die Initiative »Choosing Wisely« (deutsch etwa: Mit Bedacht wählen) in den USA. Damit sollten unnötige medizinische Leistungen reduziert und Debatten über die Vermeidung überflüssiger Diagnoseverfahren und Therapien gefördert werden. Inzwischen gibt es Nachahmer in mindestens elf Staaten, darunter vor allem Industrieländer, jeweils angepasst an spezifische Bedürfnisse und Rahmenbedingungen.

»Es gibt unendlich viele Faktoren, die eine Erbringung von medizinischen Leistungen in unserem Gesundheitssystem beeinflussen.«

Georg Ertl Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin

Auch in Deutschland fiel die Idee auf fruchtbaren Boden: Hier startete die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) 2015 die Initiative »Klug entscheiden«. Bis 2023 wurden 171 Empfehlungen aus vielen Feldern der Inneren Medizin herausgegeben, in diesem Jahr kamen acht neue hinzu. Erarbeitet werden die Ratschläge in Fachgremien, Maßstab ist die wissenschaftliche Evidenz – also das, was zum Beispiel Studien ergaben und in medizinische Leitlinien Eingang gefunden hat. Auslöser sind oft Wahrnehmungen aus dem Versorgungsalltag.

Eine der in diesem Jahr neu vorgestellten Empfehlungen befasst sich mit vermeintlichen Penicillinallergien. Bis zu zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands vermuten nämlich, dass sie eine solche Allergie haben. Dies wird etwa in Krankenhäusern bei der Aufnahme dokumentiert und dann oft als faktisch angenommen. In der Folge vermeiden Ärzte gleich den Einsatz der ganzen Antibiotika-Gruppe. Das ist kontraproduktiv, weil die dann noch möglichen Alternativ-Antibiotika schlechter wirken, teurer sein können und ihr Einsatz auch noch das Entstehen von Resistenzen fördern kann. Beim Ausweichen auf andere Antibiotika gebe es zum Beispiel eine höhere Rate an postoperativen Wundinfektionen, erläutert die Infektiologin Insa Joost bei der Vorstellung der Empfehlung in einer DGIM-Veranstaltung.

Die Empfehlung sieht jetzt vor, dass diejenigen, die eine solche Allergie bei sich vermuten, genauer unter die Lupe genommen werden sollen. Dafür lässt sich ein recht einfacher Score nutzen, in diesem Fall eine gegliederte Entscheidungshilfe mit vorgegebenen Fragen. Dabei wird unter anderem erfragt, seit wann die Allergie bekannt ist. »Viele Patienten berichten, dass sie die Allergie schon im Kleinkindalter hatten«, sagt Joost, die am Universitätsklinikum Düsseldorf tätig ist. Es zeige sich aber, dass diese spezielle Immunreaktion in 80 Prozent der Fälle nach zehn Jahren wieder verschwindet. Oder die Patienten wüssten nicht, welche Antibiotika sie statt Penicillin später erhalten hatten. Mitunter ginge schon aus den Unterlagen hervor, dass Penicillin doch verabreicht und vertragen wurde. Außerdem würden bestimmte von Viren ausgelösten Hauterkrankungen falsch als Allergie eingeordnet.

Mit dem Score lassen sich die Patienten quasi aussortieren, die gar keine Allergie haben, ohne langwierige Untersuchungen anzusetzen. »Die Fragen kann jeder Arzt stellen«, meint Joost. Das ist auch deshalb sinnvoll, weil nach mehreren Studien nur etwa ein Prozent der Bevölkerung eine echte Allergie gegen die Beta-Laktame aufweist, zu denen auch Penicillin gehört. Die Anamnese zu dem Problem ist aber nicht nur in Krankenhäusern sinnvoll. Auch Pflegekräfte und Apotheker könnten sie durchführen. Die Prüfung der Penicillin-Allergie ist eine im Rahmen von »Klug entscheiden« ebenfalls mögliche Positiv-Empfehlung, denn eine Therapie soll angewendet werden, obwohl auf den ersten Blick etwas dagegen spricht.

Bei den anderen neuen Empfehlungen geht es unter anderem um bestimmte Blutdrucksenker, die zum Beispiel bei einem chronischen Nierenversagen nicht abgesetzt werden sollten, oder um oberflächliche Abstriche bei chronischen Wunden, die überflüssig sind, wenn es keinen Anhalt für eine Infektion gibt. Auch diese neuesten Empfehlungen sind relativ komplex, und das Vorgehen dabei ist für den ärztlichen Arbeitsalltag gedacht.

Wie kann aber nun den Patienten die Idee nahe gebracht werden, dass weniger manchmal mehr ist? Ein entscheidender Punkt ist der Dialog zwischen Ärzten und Patienten. Schon einige Jahre gilt der Maßstab, dass der Patient vom Arzt in die Lage versetzt werden muss, eine informierte Entscheidung zu treffen. Er muss zum Beispiel erfahren, welche therapeutischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen und welche Nebenwirkungen auftreten können. DGIM-Generalsekretär Georg Ertl fügt auf nd-Anfrage noch einen Anspruch hinzu: Er könnte sich eine Verpflichtung vorstellen, »im Aufklärungsgespräch explizit auf die Vorteile des Unterlassens von medizinischen Maßnahmen einzugehen und dies auch zu dokumentieren«.

Bei vielen Ärzten kommt »Klug entscheiden« gut an. Aufschlussreich in dieser Beziehung ist eine DGIM-Mitgliederbefragung, die 2015 durchgeführt wurde. Demnach ordnen die Mediziner Leistungen, die sie selbst als überflüssig bewerten würden, vor allem aus Sorge vor Behandlungsfehlern und auf Druck der Patienten an oder erbringen sie selbst. Zusätzliche Erlöse oder die Unkenntnis von Leitlinien sind in diesem Zusammenhang weniger wichtig. Ungefähr die Hälfte der Ärzte gab an, dass unnötige Leistungen weniger als zehn Prozent ihres Gesamtbudgets ausmachten. Immerhin 70 Prozent erklärten, mit dem Problem überflüssiger Leistungen mehrfach pro Woche konfrontiert zu sein. Entsprechend naheliegend ist die positive Resonanz auf die Empfehlung, auf die auch Georg Ertl verweist.

Der mehrere Jahrzehnte am Universitätsklinikum Würzburg tätige Kardiologe und Internist findet auch klare Worte dafür, wie die Empfehlungen zu den Ärzten kommen: durch regelmäßige Fortbildung und konkrete Publikation der überflüssigen Leistungen, wie auch die Mitgliederbefragung ergeben habe. Und er nennt einen weiteren wichtigen Grund für das bewusste Unterlassen: »Angesichts der politischen Bemühungen, überflüssige Kosten im Gesundheitssystem einzusparen, wäre ›gutes Geld für Klug Entscheiden‹ das medizinisch wissenschaftsbasierte Instrument dazu. Die Wirtschaftswissenschaften haben mit ihren Ansätzen und Empfehlungen bisher zumindest versagt.«

Wie aber lässt sich die Wirkung der Empfehlungen nun tatsächlich messen? »Die Möglichkeiten sind da sehr begrenzt, und das treibt uns auch um«, erklärt Ertl. »Es gibt natürlich unendlich viele Faktoren, die eine Erbringung von medizinischen Leistungen in unserem Gesundheitssystem beeinflussen. Nicht zuletzt die Sterblichkeit in unserer Bevölkerung, die sich etwa bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Deutschland ungünstig entwickelt hat.« Ein Stichwort zum Merken wäre die Indikationsqualität – sie ist ein Teil der Behandlungsqualität und bildet die Angemessenheit einer Untersuchung oder Therapie ab. Festzustellen, wie diese gemessen werden kann, ist laut Ertl aber noch »ein wichtiger Auftrag an die Versorgungsforschung«.

Auch Patienten könnten ihren Teil dazu betragen, überflüssige Therapien oder Untersuchungen zu vermeiden. Ist die vom Arzt vorgeschlagene Diagnostik wirklich notwendig und was kann sie bringen? Das sind relativ einfache Fragen, die fast jeder Patient stellen kann. Und vielleicht ist der Mediziner sogar selbst erleichtert, wenn gemeinsam ein anderer und besserer Weg gefunden wird. Sicher bleibt: Die Initiative »Klug entscheiden« braucht einen Kulturwandel, der wohl erst auf lange Sicht möglich ist, vielleicht auch erst dann, wenn Fehlentscheidungen besser messbar sind und häufiger reflektiert werden.

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