- Kultur
- Krieg in Gaza
Naher Osten: Die deutsche Aufarbeiterklasse
Stimmungsmache mit der deutschen Schuld: Die hitzigen Debatten um Israel und Palästina werden weiterhin fernab politischer Analysen ausgetragen
In Gaza herrscht Krieg – und die Welt sieht auf Deutschland. Und die Deutschen selbst? Die sind ohnehin nicht fähig, den Blick vom eigenen Nabel zu heben. Was ist eigentlich so interessant an hiesigen Debatten, während in Nahost Menschen sterben?
Während sich große Teile der globalen Linken (aber eben auch nur Teile davon) einig darüber sind, für wen Partei zu ergreifen ist in dieser blutigen Auseinandersetzung, löst die Solidarität mit Israel und der teilweisen Unterstützung von dessen Palästina-Politik, wie sie von einigen Linken in Deutschland vertreten wird, Irritation bis Bestürzung aus.
Im März hat der Journalist Hans Kundnani in einem »›Zionism Über Alles‹« betitelten Beitrag in dem linken US-amerikanischen Magazin »Dissent« den Begriff »Hyperzionismus« aufgebracht, mit dem er den Sonderweg im deutschen Nahost-Diskurs als historische Entwicklung seit den 60er Jahren nachzeichnet und beschreibt. Die deutsche Erinnerungskultur sei heutzutage nicht mehr Grundlage für Humanismus und Universalismus, sondern man verteidige, als eine Art falsche Lehre aus dem Holocaust, nur die Partikularinteressen Israels.
Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub beschrieb kürzlich in der ebenfalls US-amerikanischen Zeitschrift »N+1« dasselbe Phänomen, allerdings mit dem Begriff »Psychozionismus«. In ihm kommt das vermeintlich Pathologische ungleich besser zum Ausdruck. Die Aufarbeitung der deutschen Geschichte musste unweigerlich dazu führen, dass niemand Israels Schuld sehen will und in Deutschland angeblich nur durch Palästinenser angerichtetes Leid beklagt wird. Falsche Schuldzuweisungen statt tatsächliche Aufarbeitung also. Aber ist es denn tatsächlich so banal?
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Kundnani macht in seinem Artikel immerhin darauf aufmerksam, dass in Deutschland nicht erst seit gestern Politik mit dem Holocaust gemacht wird, und erinnert an Joschka Fischers »Nie wieder Auschwitz«, diesen perversen Aufruf zur Kriegsbeteiligung in Jugoslawien. Was eigentlich politisch nicht zu rechtfertigen und moralisch verkommen war, wurde moralistisch aufgeladen zur einzig möglichen Konsequenz aus der deutschen Schuld stilisiert. Fischers Strategie machte bekanntlich Schule.
Was aber weder Hans Kundnani noch Adrian Daub sehen will – und hier offenbart sich ein gewaltiger blinder Fleck –, ist der Umstand, dass sich die schärfsten Ankläger der herrschenden israelischen Politik und die größten Fürsprecher eines palästinensischen Befreiungskampfes in Deutschland ebenfalls derselben Argumentationsmuster bedienen wie diejenigen, denen man eine verblendete hyper- beziehungsweise psychozionistische Weltsicht attestiert.
Wie alt ist die Leier, in Israel seien die Opfer von gestern die Täter von heute? Ist nicht allenthalben von Genozid die Rede, wenn vom Gaza-Krieg gesprochen wird? Wird nicht mit Blick auf israelische Kriegsverbrechen immer wieder gemahnt, Deutschland müsse sich ob seiner Geschichte hier klar und deutlich zu Wort melden? Die Positionen sind austauschbar, der Klang ist derselbe: Es ist der Ton desjenigen, dessen tiefe Einsicht in die deutsche Vergangenheit alternativlose Haltungen evoziert hat. Wem das nicht verdächtig erscheint, dem ist kaum zu helfen.
Bereits beim Ukraine-Krieg war ein merkwürdiges historisch aufgeladenes Vokabular zu vernehmen. Während von der einen Seite Putin beständig mit Hitler in eins gesetzt wurde, war sich die andere Seite sicher, die gesamte Ukraine sei von Faschisten bevölkert. Es dauerte nicht lange, da wurde die russische Invasion zum »Vernichtungskrieg« umgedeutet.
Wem Fragen lästig sind, der macht kurzerhand Politik mit der deutschen Geschichte. Wer will sich selbst schon zum Kollaborateur eines Hitler des 21. Jahrhunderts machen oder im Verdacht stehen, ideell mit Faschisten gemeinsame Sache zu machen? Faschismus – das ist, nicht ohne Grund, erneut ein Kampfbegriff unserer Tage. Allerdings ist die Faschismusanalyse als Instrumentarium offenbar aus der Mode gekommen. Schlagworte regieren.
Was also tun? All das, den ganzen Ballast der Geschichte, hinter uns lassen? Adornos kategorischen Imperativ, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, wie den »Schwur von Buchenwald« ad acta legen? Natürlich nicht.
Allerdings ist die Shoah nicht die angemessene Rechtfertigung für die Deutschen, jede fernab einer politischen Analyse entwickelte Position in die Welt zu posaunen. Denkvorgänge einzustellen, sich immer über jeden Zweifel erhaben zu zeigen, sei die Konfliktlage noch so kompliziert, und dabei zwanghaft »historische Verantwortung« zu rufen, als sei das der Joker im Kampf der Meinungen, ist zutiefst zynisch. Der Erinnerungsweltmeister Deutschland, so scheint es, ist der große Verlierer in Fragen der Diskursfähigkeit. Wem als Erstes die Argumente ausgehen, dem fällt immerhin noch Auschwitz ein. Ob das den Regeln des guten Geschmacks zuwiderläuft, ist offenbar längst keine Kategorie mehr.
Dass, ginge es nach dem Willen der lautstarken Bescheidwisser in Sachen Nahost, am deutschen Aufarbeitungswesen wieder mal die Welt genesen soll, ist ohnehin längst klar. Mit linker Politik hat das aber denkbar wenig zu tun.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.