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Welche Werte sind uns wichtig?
Werner Hartl und Ulrich Schneider über den Widerstand gegen das NS-Regime, Erinnerungslücken und Gefahren für die Demokratie heute
»Es gab nicht nur den 20. Juli 1944« ist eine Veranstaltungsreihe Ihres Studienkreises Deutscher Widerstand 1933–1945 überschrieben. Ist dieser in der bundesdeutschen Historiografie und im öffentlichen Geschichtsbewusstsein noch immer so omnipräsent?
Werner Hartl: Wenn wir Jugendliche nach dem Widerstand gegen das NS-Regime fragen, fallen ihnen zuerst die Namen Stauffenberg und Sophie Scholl ein. In der Nachkriegs-Gesellschaft wollte kaum jemand etwas vom linken Widerstand, vor allem aus der Arbeiterbewegung, wissen. Das hat sich schon geändert, wirkt aber bis heute nach. In der Forschung ist das Verständnis von Widerstand viel breiter geworden. Im öffentlichen Erinnern fokussiert sich das Gedenken aber immer noch auf wenige Personen oder Gruppen. Daran möchten wir etwas ändern.
Ulrich Schneider: Bezeichnend für die bundesdeutsche Geschichtsrezeption ist, dass dieser Slogan bereits eine 40-jährige Tradition hat. 1984 hatte sogar der WDR eine Sendereihe unter dieser Überschrift ausgestrahlt. Bis heute ist es immer wieder notwendig, darauf hinzuweisen, dass antifaschistische Organisationen sich schon vor 1933 gegen den Vormarsch der NSDAP wehrten und es insbesondere aus der Arbeiterbewegung in allen Jahren der NS-Herrschaft Formen des Widerstands gab. Es ist erfreulich, dass heute junge Leute – mit Blick auf den Vormarsch der AfD und anderer extremer Rechter – Interesse an solchen historischen Perspektiven zeigen, ohne in falsche Analogien zu verfallen.
Werner Hartl ist Soziologe und Referent am IG Metall-Bildungszentrum Lohr am Main. Seit sechs Jahren ist er Geschäftsführendes Vorstandsmitglied im Studienkreis Deutscher Widerstand 1933–1945.
Ulrich Schneider ist Bundessprecher der VVN-BdA sowie Generalsekretär der FIR, der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer – Bund der Antifaschisten. Er arbeitete als Deutsch- und Geschichtslehrer, ist Sachbuchautor und ebenfalls Mitglied im Studienkreis.
Was verstehen respektive fassen Sie unter Widerstand gegen die NS-Diktatur?
W. H.: Wenn wir streng sein wollen, ist Widerstand gegen den Nationalsozialismus das Agieren in Wort, Schrift und Tat, unter Lebensgefahr mit dem Ziel, einen Regimewechsel herbeizuführen. Für mich gehört Verweigerung, Protest und Nonkonformismus ebenso dazu. Beispielsweise die kulturelle Selbstbehauptung von Jugendlichen, die sich weigerten, sich der Hitlerjugend unterzuordnen. Viele Gruppen organisierten sich ihre Freiräume mit Fahrten ins Grüne selbst. Das ist ein Akt der widerständigen Selbstbehauptung. Hinzu kommt der sogenannte Rettungswiderstand, der seit gut 20 Jahren endlich wahrgenommen wird. Da geht es oft um vermeintlich unpolitische Menschen, die in einzelnen Fällen Verfolgten geholfen haben.
Wo sehen Sie noch Lücken in der Widerstandsforschung und -dokumentation?
U. S.: Ich sehe weniger Lücken in der Forschung, sondern weiße Flecken in der Rezeption. Wer kennt denn noch die vielfältigen regionalen Untersuchungen der »Arbeitskreise junger Historiker«, die Publikationen der DDR-Wissenschaftler zum Thema antifaschistischer Widerstand, insbesondere aus den Reihen der Arbeiterbewegung? Aber auch die »graue Literatur« der Geschichtswerkstätten in der BRD ist nur »Eingeweihten« bekannt. Hier gilt es Wahrnehmungsblockaden zu überwinden, hier liegt ein Potenzial an Wissen, das für heutige Vermittlung zu nutzen ist. Und hier liegt ein großes Potenzial des Studienkreises, der solche Publikationen gesammelt hat.
W. H.: Das Interesse in Regionen und Unternehmen, mehr konkrete Geschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus kennenzulernen, ist sehr groß. Immer wieder stoßen Interessierte hier auch auf Widerstandsgeschichten. Das ist für mich ein starker, auch emotionaler Bezug, gerade nachdem uns die Zeitzeugen kaum noch zur Verfügung stehen.
Auf der Homepage Ihres Studienkreises gibt es ein Zitat von Joseph Rossaint, es spiele keine Rolle, aus welchen Motiven Widerstand geleistet worden sei. Der katholische Kaplan und selbst NS-Verfolgter und Widerstandskämpfer gehörte zu den Gründungsmitgliedern Ihres Studienkreises am Vorabend der 68er Revolte. Und auch andere prominente Namen gehörten dazu …
W. H.: 1967 fand eine sogenannte »Schulbuch-Konferenz« mit Vertretern der Schulbuch-Verlage, mit Personen aus dem Widerstand sowie aus der Wissenschaft statt. Darunter waren auch einige prominente Persönlichkeiten aus dem Widerstand. Der einigende Gedanke war die Kritik an der mangelhaften und einseitigen Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus. Und zugleich das Wissen, dass Kenntnisse über den Nationalsozialismus aber besonders auch über den antifaschistischen Widerstand in all seinen Facetten notwendige Grundlage für eine aufgeklärte Politik der Bundesrepublik sei. Das gemeinsame Ziel war die Würdigung der verschiedenen Widerstandsformen, egal aus welcher weltanschaulichen oder politischen Grundhaltung heraus.
U. S.: Das Besondere damals war, dass es die Zeitzeugen selber waren, Frauen und Männer aus Widerstand und Verfolgung, die sich dafür einsetzten, dass ihre Perspektive in der Geschichtsforschung und Vermittlung Gehör fanden. Das ist das größte Problem heute, dass uns diese Zeitzeugen-Generation fehlt und wir, die wir mit den Zeitzeugen noch gearbeitet haben, heute als »Zeugen der Zeugen« auftreten müssen.
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Ihr Studienkreis befand sich, vermute ich, jahrzehntelang auf ziemlich einsamem Posten in der Bundesrepublik, unterstützt gewiss durch den VVN und einige zivilgesellschaftliche Initiativen. Gab es eine Art Fix-Datum für Ihren Durchbruch in der öffentlichen Wahrnehmung? Oder lässt diese immer noch auf sich warten?
U. S.: Nein, so »einsam« war der Posten in den 70er und 80er Jahren gar nicht. Gestützt wurde die Arbeit natürlich von der VVN-BdA, aus deren Bestand auch viele Dokumente und Teile der Bibliothek stammten. Aber es gab ein zunehmendes gesellschaftliches Interesse an der Aufarbeitung der »weißen Flecken« der antifaschistischen Regionalgeschichte. Der Röderberg-Verlag gab eine Buchreihe »Bibliothek des Widerstands« heraus, deren Bücher zum Teil noch heute als Standardwerke gelten. Und der Studienkreis konnte – zusammen mit regionalen Akteuren – »Heimatgeschichtliche Wegweiser« zu verschiedenen Bundesländern vorlegen, mit denen Widerstand und Verfolgung verortet wurde. Sie eröffneten oft einen Zugang zu der »anderen Geschichte« der Region.
W. H.: Schon seit den 80er Jahren gab es eine Phase der Gründung und Eröffnung neuer Gedenkstätten, in der Regel als Folge von Aktivitäten regionaler Geschichtswerkstätten und Gedenkinitiativen. Nach dem Mauerfall fand auch bei uns ein Umbruch statt. Vielleicht aus dem Bedürfnis heraus, der gefühlten Gefahr eines »neuen Großdeutschland« etwas entgegenzusetzen. Zugleich gab es nun die großen KZ-Gedenkstätten, die zuvor zur antifaschistischen Erinnerungskultur der DDR gehört hatten. Unser Studienkreis musste sich neu verorten.
In den letzten Jahren hat sich die Arbeit des Studienkreises stabilisiert, vor allem durch das ehrenamtliche Engagement von vielen, dem Widerstand verbundenen Einzelpersonen. Dazu gehören auch Nachkommen von Widerstandskämpfer*innen – die Kinder und mittlerweile Enkel des Widerstands. Das Archiv wächst; der Abschied von der Generation der Zeitzeug*innen bringt Nachlässe von Aktivistinnen zum Studienkreis.
Ein Zeugnis davon, dass wir in der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit Anerkennung finden, ist unsere neue Ausstellung »Ich wusste, was ich tat – Früher Widerstand gegen den Nationalsozialismus«. Sie wird am 21. Juli von der Stadt Frankfurt in der Paulskirche der Öffentlichkeit vorgestellt.
Zusammenhalt aller an der Aufklärung über die Barbarei des deutschen Faschismus ist geboten – angesichts zunehmenden Einflusses von Rechtspopulismus und rechtsradikaler Straftaten. Können Organisationen wie die Ihrige diesen fatalen Trend aber tatsächlich stoppen? Denn nur willige, aufgeschlossene Menschen kann man gewinnen.
W. H.: Das werden wir natürlich nicht alleine schaffen, und wenn wir ein Patentrezept hätten, wäre das sehr schön! Die politische Bildung an einem historischen Verbrechensort bietet besondere Chancen. Mit unseren Heimatgeschichtlichen Wegweisern knüpfen wir am regionalen Bezug an, ich hatte das schon erwähnt. Wir bemühen uns darum, Anlässe für Denkanstöße zu schaffen. Beispielsweise richtet sich unser Ausstellungsprojekt »Handlungsspielräume. Frankfurter Polizeibeamte im Nationalsozialismus« an junge Polizistinnen, die gerade ihre Polizeilaufbahn starten. Diese Ausstellung entstand mit dem Ziel, die bekannten Probleme, die es innerhalb der Polizei gibt, auch mit historischer Bildung anzugehen. Die Ausstellung richtet den Blick nicht nur auf solche Polizeibeamte, die sich für ein widerständiges Handeln gegen das NS-Regime entschieden. Gerade Fallgeschichten von Beamten, die zugleich ihren Dienst als systemkonforme Polizisten taten und dennoch Menschen zur Flucht halfen oder Verfolgte im Alltag unterstützten, provozieren heutige Polizeibeamte zur Selbstreflexion.
Wir wurden für die Kooperation mit der Polizei teils scharf kritisiert. Unser Bestreben ist es, einen Beitrag zu leisten, um Demokratieverständnis und rassismuskritische Haltung bei jungen Beamten zu fördern. Wenn das auch nur bei einigen gelingt, hat es sich aus meiner Sicht gelohnt. Wir sollten versuchen, was möglich ist.
Jüngst ist in dieser Zeitung ein Interview erschienen, das Mitglieder des Studienkreises zutiefst verletzte beziehungsweise gar empörte. Warum?
W. H.: Es wurde die Behauptung aufgestellt, unsere eben erwähnte Ausstellung »Handlungsspielräume« würde Täter aus dem Polizeiapparat im Nachhinein reinwaschen. Diese Darstellung ist schlicht falsch. Die Biografien der Ausstellung zeigen, wie Polizeibeamte Spielräume genutzt haben, um etwa gefährdeten Personen zur Flucht zu verhelfen oder das sozialdemokratische Widerstandsnetzwerk um den 20. Juli 1944 zu unterstützen. Jede dieser Biografien wird ergänzt mit Darstellungen, welche zentrale Rolle die Polizei im NS-Terrorapparat spielte. Erläutert werden auch Verbrechen, in die die Beamten im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit verstrickt waren.
Es geht uns nicht um ein Schwarz-Weiß-Denken. Wir möchten dazu anregen, genau hinzusehen, was die Menschen angetrieben hat. Wann entschieden sie sich für die Beteiligung am Terror und wie kam es, dass Einzelne ihre Handlungsspielräume nutzten, um sich gegen die unmenschliche Diktatur zu stemmen – oder einer Person in der Not zu helfen? Gerade daraus können wir für uns heute Erkenntnisse gewinnen. Welche Werte sind uns wichtig? Wo sind wir unsicher und wann sagen wir entschieden: »Nein, ab hier bin ich nicht mehr dabei!«
U. S.: Wenn man ein kontroverses historisches Thema aufarbeitet, dann sind Debatten notwendig. Was mich an dem Interview geärgert hat, war die apodiktische Verurteilung, bei der eine bestimmte Sichtweise als allein richtige vorgegeben wurde. Der Studienkreis hat selbstverständlich eine klare Haltung im Interesse der Frauen und Männer aus Widerstand und Verfolgung. Aber auch »Grautöne« gilt es wahrzunehmen und zu diskutieren. Sollte man dabei zu anderen Einschätzungen kommen, als sie in der Ausstellung gezeigt werden, wäre das ein Ausgangspunkt für die weitere inhaltliche Beschäftigung, aber nicht für die pauschale Verurteilung einer mittlerweile fast 60 Jahre auf nicht staatlicher Ebene arbeitenden Einrichtung.
Was wäre aus Ihrer Sicht des Weiteren zu tun, um die Demokratie gegen Angriffe von rechts zu verteidigen?
W. H.: Unseren Beitrag sehen wir darin, historisches Wissen zur Verfügung zu stellen und Orientierung aus der Perspektive des Widerstands zu geben. Die Schlüsse, was heute zu tun ist, muss jeder für sich selbst ziehen. Wenn die Demokratie funktionieren soll, brauchen wir selbstständig denkende Individuen. Wichtig für mich ist zu verstehen, aus welchen unterschiedlichen Beweggründen heraus Widerstand geleistet wurde. Das regt mich immer wieder an, über heute nachzudenken. Gerade wenn ich mir den frühen Widerstand vor 1933 ansehe.
https://widerstand-1933-1945.de
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