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Wo bleibt die Liegekur?
Was nie passieren darf: dass nichts passiert
»Die Welt ist nur ein vorübergehender Aufmarsch grausamer Momente und langer trostloser Strecken, wo nichts passiert, als dass man Zichorienkaffee und Whisky trinkt und Karten spielt«, heißt es an einer Stelle in dem sehr guten Roman »Tage ohne Ende« des irischen Schriftstellers Sebastian Barry (geb. 1955), dem mit diesem Satz eine ebenso anschauliche wie knappe Darstellung des Daseins auf diesem Planeten gelungen ist.
Dem Menschen die Grausamkeit auszutreiben, ist bislang tatsächlich noch niemandem gelungen, soweit ich sehe, aber zumindest die Bewältigung der langen, trostlosen Strecken des Lebens könnte deutlich angenehmer gestaltet werden, wenn die Menschen sich nicht seit Anbeginn der Zeit permanent darauf kaprizieren würden, etwas tun zu wollen. Denn dass auf diesen Strecken »nichts passiert«, ist ja leider gar nicht wahr! In Wirklichkeit ist es ja gerade der menschliche Drang nach Betätigung, der die grundlegende Wurzel allen Übels ist. Weil ihr angeblich »langweilig« ist, hat sich die Weltbevölkerung auf alle möglichen entbehrlichen Aktivitäten verlegt: Menschenrechtsverletzungen begehen, Kriege führen, Meinungen im Internet posten, in der Öffentlichkeit laut telefonieren. Sprechen wir es ruhig offen aus: All das könnte vermieden werden.
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Ich rate deshalb nicht nur von stupiden (Kartenspiel) und Übelkeit verursachenden (Zichorienkaffee trinken) Tätigkeiten ab, sondern von so gut wie allen, da das Verrichten der allermeisten von ihnen üble Folgen nach sich zieht.
Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft der entspannte Genuss der Langeweile nicht der unentwegten Betriebsamkeit vorzuziehen ist. (Genaugenommen ist das Wort »Langeweile« ja nur ein abwertender und in die Irre führender Begriff für »Kontemplation«.) Gerade dass einmal tatsächlich NICHTS PASSIEREN würde, wäre ja das berückend Schöne. Der Mensch aber ist leider rast- und ruhelos. Das fängt schon morgens an: Kaum hat er sich das letzte Körnchen Schlaf aus den Augen gerieben, will er schon aufstehen. Womöglich ruft die Arbeit oder andere unnütze oder belanglose Tagesgeschäfte wollen erledigt werden, was zur Folge hat, dass schon der Vormittag kontaminiert ist durch sinnlose Emsigkeit und Hektik und mit elender Mühsal zugebracht wird.
Statt in halb liegender, halb sitzender Position und im Zustand der Ruhe und friedlichen Heiterkeit zu verbleiben, still zu sein und bewusst gar nichts zu tun – was, bedenkt man den voraussichtlichen Verlauf des betreffenden Tages, zweifelsohne dem Wohl aller zugute käme –, rumort im Menschen der unausrottbare Wille zur Umtriebigkeit: morgendliche Körperpflege (Energie- und Wasserverschwendung, Verunreinigung der Umwelt durch Seifenrückstände und Kosmetikaverpackungen), Trinken des Frühstückskaffees (Ausbeutung des Trikonts durch Großkonzerne, 386 Milliarden Jahresumsatz derzeit), Autofahrt zum Arbeitsplatz und zurück (Beschleunigung der Klimakatastrophe durch Emission von CO2, Stickoxiden, Kohlenmonoxid und Dieselrußpartikel, Lärmbelastung), Erledigung des Wocheneinkaufs (Konsumwahn, weitere Verpackungsabfälle) – so geht das immerzu weiter in einer Endlosschleife. Und täglich grüßt das Murmeltier.
Der Dichter Oscar Wilde (1854-1900) wusste es besser: »Gar nichts tun ist die allerschwierigste Beschäftigung und zugleich diejenige, die am meisten Geist voraussetzt.« Selbst der ansonsten für seine regelrechte Arbeitsobsession bekannte Schriftsteller Arno Schmidt (1914-1979) notierte, während er an seinem Roman »Julia, oder die Gemälde« (der nicht ohne Grund Fragment geblieben ist) saß, auf einem Zettel: »Ich hab eben genug Verstand, um im Notfall auch einmal gar nichts zu tun.« Im Notfall! Davon, dass die beiden zu ihren Lebzeiten je unter »Langeweile« gelitten hätten, ist bis heute nichts bekannt.
Die großen Helden der Weltliteratur sind es, die uns als Leitfiguren dienen und Richtschnur für unser Handeln sein sollten: Der göttliche Oblomow, der keinen ernstlichen Grund sieht, sein Bett zu verlassen, und dessen Hauptaktivität der Mittagsschlaf ist; der rührende Hans Castorp, dem es gelingt, sich mittels einer ausgedehnten »Liegekur« in einem in den Schweizer Alpen gelegenen Sanatorium vom Terror der Zeit zu lösen und sich so dem bürgerlichen Tüchtigkeitswahn zu entziehen; der weise Schreiber Bartleby, dessen Mantra »Ich möchte lieber nicht« nicht etwa ein Zeichen von Lebensverweigerung ist, sondern vielmehr zentraler Vorsatz, um ein gelungenes Leben zu führen, in dem Kontemplation und Muße die zentralen Säulen bilden. Durch ihr Nichtstun geben sie uns ein strahlendes Beispiel.
Sicher ist jedenfalls: Es schadet auch ganz unabhängig davon nicht, die Werke von Iwan Gontscharow (1812-1891), Thomas Mann (1875-1955) und Herman Melville (1819-1891) zu lesen. (Auch wenn man dann nicht mehr nichts tut.)
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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