- Politik
- Gefährdete Demokratie
Rücktritte in Sachsen: » ... dann wird es dunkel und kalt«
Zunehmende Hetze und Bedrohungen lassen mehrere Politiker ihr Amt aufgeben
Am 3. Juli 2022 gab es bei der Wahl der Landräte in Sachsen einen Paukenschlag. Im Kreis Mittelsachsen wurde Dirk Neubauer zum Chef der Kreisverwaltung gewählt. Der parteilose, von Linke, SPD und Grünen unterstützte vormalige Journalist und Bürgermeister von Augustusburg ist der Einzige unter den zehn sächsischen Landräten, der kein CDU-Parteibuch hat. Nicht zuletzt machte er Hoffnungen der AfD zunichte, erstmals einen Spitzenposten in einer Kommune zu erobern.
Nur zwei Jahre und drei Wochen später gibt es erneut einen Paukenschlag. Der eigentlich für sieben Jahre gewählte Neubauer kündigte seinen Rücktritt an. »Es macht keinen Sinn für mich, an dieser Stelle weiter tätig zu sein«, sagte er in einem Videostatement. Er räumte darin zum einen ein, mit progressiven politischen Vorhaben, darunter neue Formen der Bürgerbeteiligung sowie ein »Landwerke« genanntes Großprojekt zur Energiewende von unten, an der konservativen Mehrheit im Kreistag gescheitert zu sein. Dort gebe es »keinen wirklichen Gestaltungswillen«, sagte Neubauer. Bei der Kommunalwahl im Juni kamen die CDU, die seinen Wahlerfolg bis heute nicht akzeptiert und seine Arbeit torpediert, sowie die AfD und die noch rechtsextremeren Freien Sachsen zusammen auf über 60 Prozent der Stimmen. Mit deren Verweigerungshaltung, warnte der Landrat, werde man von Klimawandel über Migration bis zu demografischem Wandel »nicht eines unserer großen Probleme lösen«.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Weit schwerwiegender ist Neubauers Eingeständnis, dem Hass und den Bedrohungen, die er in seiner Funktion als Kommunalpolitiker erfährt, nicht mehr gewachsen zu sein. »Wir leben in Zeiten, in denen Mandatsträger quasi zu Freiwild erklärt werden«, sagte er und verwies auf eine »diffuse Bedrohungslage aus der rechten Ecke«. Er erwähnte anonyme Mails, Autokorsos in seinem Wohnort und Darstellungen seiner Person in Sträflingskleidung. Zuletzt hatte er bereits seinen Wohnsitz gewechselt, nachdem auch seine Familie ins Visier geraten war. Zugleich betonte Neubauer, er gehe »nicht in die Knie vor ein paar Krakeelern«. Entmutigt fühle er sich aber durch fehlenden Rückhalt und ausbleibende Solidarisierung in Politik und Gesellschaft: »Ich gebe auf, weil mir da draußen zu viele den Mund halten«, sagte er.
Neubauer ist nicht der einzige demokratische Politiker in Sachsen, den Hass und Hetze resignieren lassen. Vor wenigen Tagen hatte die CDU-Politikerin Yvonne Magwas erklärt, nicht noch einmal zur Wahl anzutreten. Die 44-jährige Vogtländerin ist derzeit eine der Vizepräsidentinnen des Bundestages und mit ihrem Bundestagskollegen Marco Wanderwitz verheiratet, der offen wie wenige CDU-Kollegen vor den Gefahren durch die AfD warnt. Magwas begründete ihren geplanten Rückzug unter anderem mit einem gesellschaftlichen Klima, das »insbesondere in Sachsen« immer rauer geworden sei: »Es wird gelogen, diskreditiert und gehetzt, die Demokratie und ihre Institutionen werden von AfD, Freien Sachsen, III. Weg, NPD und wie sie alle heißen Tag für Tag und systematisch in Frage gestellt mit dem Ziel, sie abzuschaffen.« Magwas klagte wie Neubauer nicht nur über Beleidigungen und Bedrohungen, sondern auch über »viel Gleichgültigkeit«. Sie fügte eine eindringliche Warnung an: »Wenn unser Land diesen Weg weitergeht, wird es dunkel und kalt – darüber sollten sich mehr Menschen Gedanken machen.«
Aus der Politik zurückziehen wird sich auch Torsten Pötzsch, der Oberbürgermeister von Weißwasser. Der 53-Jährige galt bisher als ein maßgeblicher kommunaler Interessenvertreter beim Strukturwandel im Lausitzer Braunkohlenrevier. Zudem prägte der parteilose Politiker, der seit 2010 Rathauschef ist, das Image von Weißwasser als Stadt, die sich engagiert und mit viel Kreativität dem Stadtumbau stellt. Kürzlich erklärte er, keine dritte Amtszeit anzustreben und bei der Neuwahl am 1. September nicht erneut antreten zu wollen. Er verwies auf gesundheitliche und persönliche Gründe, aber auch auf »massive Anfeindungen«: Er habe die »Gerüchte, Unterstellungen, Anschuldigungen und Verleumdungen« nicht mehr hinnehmen können.
Mit den nahezu gleichzeitigen Rückzügen von Neubauer, Magwas und Pötzsch kulminiert in Sachsen eine Entwicklung, der beispielsweise auch Martina Angermann Tribut zollen musste. Die SPD-Bürgermeisterin von Arnsdorf bei Dresden gab 2019 ihr Amt auf, nachdem Hetze und Anfeindungen von rechts sie gesundheitlich schwer in Mitleidenschaft gezogen hatten. In Bautzen erfuhr die politische Aktivistin Annalena Schmidt so massiven Widerstand, dass sie sich 2020 zum Wegzug entschloss. In Großschirma im Kreis Mittelsachsen nahm sich Ende 2023 der FDP-Bürgermeister Volkmar Schreiter gar das Leben. Einer der Gründe soll auch dort das vergiftete Klima in der Kommunalpolitik gewesen sein. Der Soziologe Alexander Leistner von der Universität Leipzig sieht in der Entwicklung »Anhaltspunkte für eine Erosion der politisch-kulturellen Infrastruktur der Demokratie«. Im Kurznachrichtendienst X sprach er von der »ungeheuren Kraft von Normalisierungsprozessen, an deren Ende – zugespitzt – demokratisches Handeln und demokratische Haltung von einer Mehrheit ... als abweichendes Verhalten behandelt wird«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.