Zugewinn für die Arche der Emanzipation

Neuer Band des »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus« erschienen

  • Jürgen Stahl
  • Lesedauer: 6 Min.
Marxismus heißt, die Arbeitenden zu bestärken, knechtende Verhältnisse umzuwerfen.
Marxismus heißt, die Arbeitenden zu bestärken, knechtende Verhältnisse umzuwerfen.

Von Mitleid bis Nazismus. Nach nunmehr fünf Jahren ist das Erscheinen eines neuen Bandes des »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus« (HKWM) zu vermelden. Er umfasst 60 Stichwörter, 77 Artikel, erörtert von 70 Autorinnen und Autoren. Bemerkenswert: 21 Prozent sind Frauen, mehr als ein Drittel sind nicht aus Deutschland. Neben dem fünften Band ist dieser neunte Halbband wohl der umfangreichste, was sich wohl auch der überdurchschnittlichen Länge der Beiträge verdankt. Die Stichwortzahl der gesamten Edition hat inzwischen die 1000 überschritten, und die Zahl der in das Projekt involvierten Autoren und Mitarbeiter die 800er-Marke erreicht.

Jeder Band gibt naturgemäß auch Auskunft über seine Zeitbezogenheit. Denn mit den über die Jahre veränderten praktischen Problemstellungen in der Welt änderten sich auch Perspektiven auf die anfallenden Stichworte. Es geht also auch um ein »Historisieren« des »Historisch-Kritischen«, was paradox klingen mag, jedoch meint, dass die Kriterien für die inhaltliche Erarbeitung der Stichworte an der geschehenden Geschichte zu schärfen sind. Zwar erkundet das sich auf Karl Marx beziehende Denken Vergangenes, doch kann es »seinen Standpunkt nicht in der Vergangenheit holen«, betont Herausgeber Wolfgang Fritz Haug. Noch weniger ist das gesamte Projekt »Selbstzweck«, vielmehr dient es »der emanzipatorischen Bearbeitung grundlegender Menschheitsprobleme«. Insofern sei das HKWM auch weniger als ein Nachschlagewerk empfohlen, sondern vielmehr – so der Schriftsteller Volker Braun – als »Vorschlagwerk«, um auf »Erkundungen« zu gehen, wo »Vergangenheitserkenntnis« mit der Gegenwart zusammentritt, indem die Texte »Licht auf die aktuellen Krisenkonstellationen« werfen.

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Es geht nicht einzig darum, Termini philologisch korrekt in ihrem Gebrauch im marxistisch geprägten Diskurs und darüber hinaus nachzuweisen. Vielmehr soll die Entwicklung von deren Verständnis, dessen Wandlungen und sich differenzierender Erkenntniswert hervortreten. Dies unterscheidet diese Edition denn auch von vielen anderen enzyklopädischen Publikationen. Erinnert sei an das einst von den DDR-Philosophen Manfred Buhr und Georg Klaus herausgegebene »Philosophische Wörterbuch«, in dem die Begriffe wesentlich als ausgebildete vorgestellt und gern mit dem Hinweis versehen wurden, dass deren »echte Dialektik erst auf der Grundlage des dialektischen Materialismus« entwickelt werden konnte. Der ihnen eigene geschichtliche Charakter verschwand in statischer, lehrbuchartiger Sicht. Dass die meisten Begriffe nicht nur in der Vergangenheit umkämpft waren, sondern ebenso in der Gegenwart sind, sich ihr Inhalt im historischen Geschehen konkretisiert, blieb so unbeachtet. Man schaue sich beispielsweise das Stichwort »Nation« in dem in der DDR erschienenen »Philosophischen Wörterbuch« und die Vielzahl von Einträgen zu diesem Komplex im »Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus« an, der auch Begriffe wie Nationalbolschewismus oder nationale Minderheiten umfasst und eine Vielzahl aktueller Auseinandersetzungen aufgegriffen wird.

Das zeigt sich auch bereits beim ersten Lemma »Mitleid«. Mit der doppelten Autorenschaft sind unterschiedliche Perspektiven aufgenommen. Mitleid als Kategorie zur Kritik sozialer und politischer Zusammenhänge und der Beförderung von Solidarität ist das eine, das andere dessen Instrumentalisierung mittels politischen Moralisierens. Die Ambivalenz wird am Beispiel des inzwischen ungeheuer angewachsenen Einflusses bildgebender Medien verdeutlicht, die mit ihrer den Kontext oft verbergenden, aber unmittelbaren Wirkung ein Gefühl von Mitleid zu täuschen, überfordern oder abzustumpfen vermögen. Die Nuancen von »Einfühlen« und »Mitgefühl« nebst Machtdifferenzen offenbaren sich auch in der #MeToo-Debatte: Warum zeigte diese erst dann Wirkung, als »wohlhabende und oft weiße cis Frauen in Hollywood« sich an deren Spitze stellten, während das Problem des sexuellen Missbrauchs längst ein Anliegen feministischer Aktivistinnen war.

Ein anderer Eintrag mit gleich vier Autoren diskutiert den Begriff »Möglichkeit«. Erfasst sind hier nicht nur die Erörterungen von Karl Marx zur Realisierung der Möglichkeiten einer modernen Arbeiterbewegung und deren wirkliche Bedingungen, wie sie in der Kritik der politischen Ökonomie hervortreten. Es wird darüber hinaus das weite philosophiehistorische Feld von der Antike bis in die klassische deutsche Philosophie aufgezeigt, um dann die spezifische Verwendung bei Georg Lukács, Ernst Bloch und in der Kritischen Theorie vorzustellen. Eine weitere Perspektive wird zudem mit der naturgeschichtlichen Rekonstruktion der gesellschaftlichen Natur des Menschen durch die Kritische Psychologie eröffnet.

Ein wesentliches Charakteristikum der gesamten Edition, Leitmotiv in der Behandlung aller Stichworte ist das Problem der Handlungsfähigkeit, das heißt, sich gegenüber Handlungsmöglichkeiten bewusst zu verhalten. Also Emanzipation gemäß dem marxschen »kategorischen Imperativ«, dass die von der Herrschaft und den herrschenden Verhältnissen Bedrängten in die Lage versetzt werden, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.

Im Band 9/II werden neben den beiden Schwerpunkten »Nation« und »Natur«, eine Vielzahl von Termini analysiert, die sich aus Konstellationen der krisenhaften und widersprüchlichen Entwicklung unserer Gegenwart ergeben. Von außerordentlicher Aktualität sind die Einträge Nahost-Konflikt von Norman Peach und Werner Ruf oder Nazismus von Jan Rehmann. Andere, in traditionellen Wörterbüchern eher selten zu findende Begriffe sind Multitude (vor allem von Antonio Negri und Michael Hardt propagiert für die Vielfalt, Menge von Subjekten und Singularitäten), Muralismus (Wandmalerei) und Nachbarschaftsbewegung sowie, als Nachtrag zu Band 9/I, »Mestizaje« (nationalistischer Begriff für »Rassenmischung« in Lateinamerika). Hier schlägt sich das verstärkte Erfordernis und Bedürfnis globaler Rezeption nieder.

Jeder Band dieser Edition ist ein Zugewinn für die »Arche des Marxismus«, wie diese bereits tituliert worden ist. Sie vermag »Impulse für die Zukunft« zu eröffnen. Die Arbeit am Band 10/I hat begonnen. Die Internationalisierung des Projektes schreitet nicht nur durch den Anteil ausländischer Autoren voran. Es gibt erste Übersetzungen. Seit 2017 wird an einer chinesischen Ausgabe des Wörterbuches gearbeitet, deren dritter Band im vergangenen Jahr erschien. Zugleich entstehen englisch- und spanischsprachige Auswahlbände. Und es gibt auch ein »Historisch-kritisches Wörterbuch des Feminismus«, das Beiträge versammelt, die im HKWM die Geschichte des Feminismus und die »dort geführten Kämpfe und Kontroversen« vorstellt; hiervon liegen ebenfalls schon drei Bände vor.

Ein Projekt, das mittlerweile 30 Jahre besteht, muss sich auf immer neue Weise neuer Autoren versichern, zumal mehrere erfahrene, bisher Mitwirkende nicht mehr zur Verfügung stehen. Erst kürzlich verstarb der langjährige Mitherausgeber und Autor, der ostdeutsche Historiker Wolfgang Küttler, eine große Lücke hinterlassend. Und in einem Interview in dieser Zeitung (»nd« vom 1./2. Juni) äußerte der Spiritus Rector der Edition, Wolfgang F. Haug, dass er und seine Frau sich kräftemäßig fortan nur auf die Arbeit am Wörterbuch konzentrieren könnten. Neben dem personellen Problem gibt es das institutionelle und damit verbunden der finanziellen Absicherung des Projektes. Insofern sind jedem Band des »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus« große Aufmerksamkeit, viele neue engagierte Autoren und Autorinnen sowie Förderer zu wünschen. Einzelne Stichworte sind übrigens im Internet gegen einen vergleichsweise geringen Preis erwerbbar: http://www.neu.inkrit.de/index.php/de/hkwm/shop. Eine Möglichkeit der finanziellen Unterstützung des Projektes findet sich unter dem Link http://betterplace.org/p138521.

Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Bd. 9/II. Mitleid bis Nazismus. Hg. v. Wolfgang Fritz Haug, Frigga Haug u.a. Argument-Verlag, 704 S., geb., 165 €.

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