Intersektionale Staatstheorie: »Das Ungeheuer transformieren«

Birgit Sauer erklärt im Interview die Perspektiven einer intersektionalen Perspektive auf Staatlichkeit

  • Interview: Lukas Geisler
  • Lesedauer: 6 Min.
Sieht gar nicht so bedrohlich aus: Der Leviathan, das mythische Seeungeheuer, symbolisiert seit Thomas Hobbes’ gleichnamiger Schrift den Staat.
Sieht gar nicht so bedrohlich aus: Der Leviathan, das mythische Seeungeheuer, symbolisiert seit Thomas Hobbes’ gleichnamiger Schrift den Staat.

Der westliche Wohlfahrtsstaat ist ein zutiefst widersprüchliches Konstrukt, für das der französische Philosoph Étienne Balibar etwa den Begriff des »national-sozialen Staates« prägte. Wie haben Sie sich diesem Zusammenhang in Ihrer jüngsten Arbeit genähert?

Balibar ist zwar nicht der Ausgangspunkt unseres Buches, aber wie er wollen wir darauf hinweisen, dass der moderne westliche Staat ein Konstrukt von Herrschaft ist. Westliche Staaten haben sich im 19. Jahrhundert als Nationalstaaten gegründet. Die nationale Einheit war schon immer eine Fiktion, vor allem ist dieser Staat stets verknüpft mit Ausschlüssen: durch den Ausschluss und die Unterdrückung von Kolonien, aber auch durch den Ausschluss von Frauen. Darauf hinzuweisen, dass dieses Staatskonstrukt gerade nicht ein Allgemeinwohl herstellt, wie es die liberale Idee suggeriert, war die Idee der feministischen Staatsforschung. Und die Verknüpfung von Nationalität und Sozialstaatlichkeit, das versucht auch Balibar deutlich zu machen, ist eigentlich eine toxische Verbindung.

Interview

Birgit Sauer ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Sie arbeitet zu feministischer Staats­theorie, Affekt­theorien und zur autoritären Rechten. Ihr gemeinsam mit Gundula Ludwig herausgegebener Sammelband »Das kälteste aller kalten Ungeheuer? Annäherungen an intersektionale Staatstheorie« erschien im Juni im Campus-Verlag (268 S., br., 34 €).

War dies die Idee des Sammelbandes?

Durch unsere feministisch-materialistischen Theoretisierungen stellten Gundula Ludwig und ich fest, dass der Staat eben nicht nur eine Frage von Klassenverhältnissen ist, die im Wohlfahrtsstaat versucht wurden zu bändigen und zu institutionalisieren. Auch Geschlechterverhältnisse sind zentral für die Aufrechterhaltung von Herrschaft. Darüber hinaus sind die Ursprünge moderner Staatlichkeit durch sexuelle Verhältnisse, durch Heteronormativität sowie durch ganz bestimmte Vorstellungen von Körperlichkeit, also von Ability gekennzeichnet. Der westliche Staat ist auch durch koloniale Exklusionen geprägt, die bis heute in postkolonialen rassistischen Konstellationen weiterwirken. Die Idee des Buches ist, die feministisch-materialistische Staatstheorie durch Herrschaftsstrukturen, die bislang weder in der materialistischen noch in der feministischen Staatstheorie explizit in ihrer Verknüpfung theoretisiert wurden, zu erweitern.

Was sind die Herausforderungen, wenn man versucht, den Staat intersektional zu theoretisieren?

Zentral ist die Herausforderung kritischer Theorie, sich nicht zu der Idee hinreißen zu lassen, es gebe die eine Staatstheorie, mit der alle Formen von Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung gefasst werden können, um damit den einen Weg aufzuzeigen, wie Herrschaft von Menschen über Menschen überwunden werden könnte. Meiner Ansicht nach kann es das nicht geben. Wir müssen immer ganz unterschiedliche, zeitlich und regional differenzierte, sich immer wieder herstellende Formen von staatlicher, von kapitalistisch-patriarchaler, kolonialer und heteronormativer Herrschaft in Betracht ziehen.
Die zweite Herausforderung, mit der sich die feministisch-materialistische Staatstheorie schon immer beschäftigt hat, ist die Suche nach dem Ursprung von Herrschaft oder besser die Erklärung, wie kapitalistische Akkumulations-, Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse mit patriarchalen Verhältnissen zusammenhängen. Ich glaube, wir müssen uns auch von dieser Frage des Ursprungs verabschieden.

Deshalb arbeiten Sie mit dem Begriff der »Intersektionalität«?

Lange haben wir die Frage, was »Intersektionalität« bedeutet, diskutiert. Der Begriff zielt auf die Überkreuzung von unterschiedlichen Herrschaftsstrukturen und darauf, was an dieser Schnittstelle, der Intersection, passiert. Wie hängen Privilegien des Geschlechts mit Benachteiligung und Ausgrenzung durch rassistische Strukturen und kapitalistische Ausbeutung zusammen? Wir haben bemerkt, dass das wahnsinnig schwierig zu theoretisieren ist. Deshalb sprechen wir von multiplen Herrschaftsstrukturen, um deutlich zu machen, dass uns bewusst ist, dass Gesellschaften durch ganz vielfältige Herrschaftsstrukturen und Subjektivierungsweisen gekennzeichnet sind.

Und das macht den Staat zum »kältesten aller kalten Ungeheuer«, wie Ihr Sammelband heißt?

Der Titel geht auf ein Zitat des Philosophen Friedrich Nietzsche aus seinem Buch »Also sprach Zarathustra« zurück. Und es ist, wie soll ich das sagen, eine schön-schreckliche Metapher. Bereits der Vertragstheoretiker Thomas Hobbes bedient sich einer Metapher für die Ungeheuerlichkeit der Begründung des modernen Staates – des »Leviathan«, ein Seeungeheuer. Wir übernehmen nicht Nietzsches Denken über den Staat, für uns beinhaltet die Metapher vom »kältesten aller kalten Ungeheuer« die Tatsache, dass diese Multiplizität von Ungeheuerlichkeiten durch staatliche Institutionen, durch staatliche Normen, durch staatliche Politiken und durch Subjektivierungsweisen reproduziert wird. Damit wollen wir zum Ausdruck bringen, dass der moderne westliche Staat auf ganz ungeheuerlichen, unterdrückenden, ausgrenzenden und ausbeutenden Strukturen beruht. Es drückt die Kaltschnäuzigkeit aus, mit der, wie Michel Foucault es nannte, Leben gemacht und sterben gelassen wird.

Nicos Poulantzas, ein griechisch-französischer Staatstheoretiker, auf den Sie sich auch beziehen, schreibt: Der Staat »wirkt in positiver Weise, er schafft, verändert, produziert Reales«. Widerspricht dies nicht Ihrer Konzeption des Staates?

Ich würde es nicht als Dissens sehen. Intersektionale Staatstheorie bezieht sich immer auf die Vorstellung von Poulantzas, dass der Staat ein Terrain ist, auf dem Kämpfe ausgetragen werden. Staatstheorie sollte immer davon ausgehen, dass diese Kämpfe kontingent sind – sonst wären es keine Kämpfe. Es ist aber natürlich schwierig, die Ambivalenz zu denken: einerseits die Gewaltstrukturen des Staates, andererseits die Möglichkeit, diese durch Kämpfe zu transformieren. Es öffnen sich immer wieder Gelegenheiten, dass gesellschaftliche Akteur*innen verändernd eingreifen.

Können Sie das konkretisieren?

Der Nationalstaat war ein Mittel der bürgerlichen Klasse, um sich gegen die feudalen Strukturen durchzusetzen. Durch Kämpfe entstanden rechtsstaatliche Formen, die die Gewalt des Staates begrenzt haben. Der Wohlfahrtsstaat, als institutionalisierter Klassenkompromiss, kann aber auch als Pyrrhussieg der Arbeiterklasse im Globalen Norden verstanden werden. Es gehört zu dessen Ambivalenz, dass Frauen und versklavte Menschen im Globalen Süden ausgeschlossen blieben. Ebenso haben neoliberale Akkumulation und Staatlichkeit zu Verbesserungen geführt – zumindest für einige. Christa Wichterich spricht von der neoliberalen Emanzipation von Frauen. Wir sehen beispielsweise, dass staatliche Institutionen in der Lage waren, Gewaltschutzgesetze durchzusetzen, freilich in einem neoliberalen Verwertungszusammenhang. Interessant ist also, wie Staatlichkeit in der Ambivalenz von Ausschluss und Unterdrückung sowie Ermöglichung von Transformation und Veränderung gedacht werden kann.

Wenn von der herrschenden Politik proklamiert wird, dass Geflüchtete »endlich im großen Stil abgeschoben« werden müssen, haben wir es gerade mit einer Autoritarisierung westlicher Staatlichkeit zu tun?

Interessant ist, dass bereits Poulantzas in den 70er Jahren, also im Übergang vom Fordismus zum Neoliberalismus, sich mit der Frage des Autoritären beschäftigt hat. Stuart Hall hat ungefähr zur gleichen Zeit die Politik von Margaret Thatcher als »autoritären Populismus« bezeichnet. Momentan sehen wir, dass die Krise des Neoliberalismus, mit der wir seit der globalen Finanzkrise von 2009 konfrontiert sind, die autoritären Tendenzen verstärkt. Das zeigt sich an der europäischen Abschottungspolitik, aber auch an der Sozialpolitik und den Debatten um das Bürgergeld. Auch der Sicherheits- und Strafdiskurs ist Anzeichen dafür. Gewaltschutzgesetze beispielsweise, die Frauen eigentlich schützen sollen, können gegen Migrant*innen gewendet werden. Das lässt mich pessimistisch zurück.

Was können wir den autoritären Tendenzen entgegensetzen?

Ich glaube, es braucht eine ganz andere Vorstellung, wie Menschen miteinander in Beziehungen leben und wie dies organisiert sein kann. Wir müssen uns von der Vorstellung liberaler Staatskonzeptionen verabschieden, dass Menschen abgeschlossene Monaden sind, die ein Profitinteresse haben. Wir müssen Gesellschaft, Menschen und Subjektsein neu denken. Da dranzubleiben, das ist die Aufgabe kritischer Wissenschaften. Wenn wir sagen, Staatlichkeit entsteht aus gesellschaftlichen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen, diese wiederum werden von Menschen gelebt, dann kann Staatstheorie auch dazu beitragen, diese zu verändern und das Ungeheuer zu transformieren.

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