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Tischtennis ist eine höchst dramatische Angelegenheit
11 Punkte sollt ihr sein: Tischtennis ist der ideale Sommersport, geht aber auch sonst, zum Beispiel bei den Olympischen Spielen dieses Wochenende
1: Die Wissenschaft hat festgestellt
Tischtennis, sagt die Wissenschaft, verlängert das Leben um bis zu zehn Jahre. Glaubt man erst mal nicht, ist aber so. Tischtennis ist nämlich ein strategischer Denksport bei gleichzeitig hoher physischer Anstrengung. Tischtennis ist eine ultraschnelle, taktische Sportart, sie regt besonders die hinteren Areale unseres Hirns an, die sonst nicht so beansprucht werden. Sagt die Wissenschaft, und die muss es ja wissen. Es sind die kurzen, sich wiederholenden Intervalle, die mit hoher Intensität verbunden sind, die koordinativen Herausforderungen. Das alles zeitigt Effekte, die sich günstig auf unsere geistige und körperliche Gesundheit auswirken. So weit, so schön.
Nun wird die intelligente Schlagsportart vorzugsweise in kühlen Sporthallen gespielt. Da regt sich kein Luftzug und kein Sonnenstrahl bricht durch die Phalanx aus künstlichen Lichtquellen. Und auf den Plastikböden rutscht man so herum. Kann das gesund sein, vor allem für die Gelenke?
Sagen wir so: Die kühlen Hallen garantieren auch Spitzenspieler aus Ägypten oder Indien, tatsächlich aufkommende Weltmächte im ansonsten chinesisch geprägten Sport, der mittlerweile aber versucht, durch Turniere wie beim Tennis Aufmerksamkeit zu ziehen. Schaut man sich das auf Youtube an, muss man sagen, gelingt das nur so bedingt. Und ja, Tischtennis kann auf die Knie gehen, besonders auf harten Hallenböden. Ist aber ansonsten ein äußerst verletzungsarmer Sport.
2: Pingpong Delight
Natürlich, es ist Sommer, da lässt sich der beliebte Volkssport auch sehr gut im Freien ausüben: An den berühmten Steinplatten, die mittlerweile im Stadtbild einer durchschnittlich fortschrittlichen Stadt öfter aufzufinden sind als Klettergerüste. In manchen Städten, Münster zum Beispiel, lassen sie sich immerhin durchs Internet finden. Mit Wegbeschreibung.
Das Spiel an der Steinplatte mutet für diejenigen, die ein Tischtennisspiel in der Halle gewohnt sind, erst einmal recht steinzeitlich an. Die Netzkante ist ein echtes Hindernis, der Ball springt mit einem nervigen Geräusch hoch ab und landet eher selten auf der anderen Tischhälfte. Auch springt der Ball auf Stein anders ab als auf Holz, und da wären noch die wichtigste Komponenten der freien Natur: der Wind und die Sonne.
Die Sonne kann blenden und geht irgendwann unter, aber mittlerweile hat die Industrie auch dafür Abhilfe geschaffen. Neben Kappen, Sonnenbrillen, Sonnenschirmen und Parasols gibt es für den eintretenden Fall von Dunkelheit breite Lampen, bestellbar über Pingpongdelight, das schöne Stichwort lautet hier »Pulsweitenmodulationskondensatornullleitervernichter«.
Auch Windschutz ist zu haben, man kennt das vom Strand, im Zweifel aber muss man mit den Bedingungen leben, das macht das Spiel ja auch spannend.
3: Futschikato
Tischtennis ist ansonsten ein recht vorhersehbarer Sport. Heißt, der Bessere wird gewinnen; erst später, in den Meisterschaftsspielen, wird man Möglichkeiten sehen, wie man als vermeintlich schlechtere Spielerin doch den Sieg an sich reißen kann. Ein Stichwort dazu lautet »mentale Kühle«. Es kommt beim Tischtennis auf jeden Punkt an, denn ein normales Spiel dauert mittlerweile nicht mehr so lange. Seit ungefähr diesem Jahrtausend spielt man nämlich nicht mehr auf 21 Punkte pro Satz, sondern nur mehr auf 11; dafür gibt es drei Gewinnsätze statt nur zweien. Eine Fehlangabe, das nur als Beispiel, bei 9:9 macht also schon einen großen Unterschied. Noch ein Netzball des Gegners und der Satz, in dem man lange gut ausgesehen hat, ist futsch.
4: Chinesische Träume
Das mit der »mentalen Kühle« können Chinesinnen und Chinesen besonders gut, sagt man. Immerhin gibt es die asiatischen Kampfkünste, in denen dieses Prinzip gilt und geübt wird: das Prinzip der Klarheit im Kopf. Der absoluten emotionalen Kontrolle in einem Moment des Kampfs. Aber das sind natürlich nicht allein die Gründe, warum China die Weltmacht im Tischtennis ist.
Der ursprünglichste Grund hatte mit Mao zu tun. Der erkannte in dem drolligen Sport, der erst von Engländern in kleinen Clubs, später von jüdischen Spielerinnen und Spielern aus den Reichen der europäischen Mitte gepflegt und geprägt wurde, das Potenzial, das Volk der Chinesinnen und Chinesen weit nach vorne zu bringen. So sagte er: »Betrachtet den Tischtennisball als Kopf eures kapitalistischen Feindes. Trefft ihn mit eurem sozialistischen Schläger und ihr habt den Punkt für das Vaterland gewonnen.«
Nun, so einfach geht das längst nicht mehr. Der getroffene Ball kommt nämlich erstens schneller zurück als einem guten Maoisten lieb sein kann. Zweitens ist das mit dem sozialistischen Schläger nur mehr Nostalgie – wie überhaupt sollte er denn aussehen, der sozialistische Schläger?
5: Die Industrie
Der sozialistische Schläger könnte einer mit Noppen sein: Er zerstört das Spiel der Spieler mit den klebrigen, griffigeren, schnittigen Belägen. Doch mittlerweile haben sich die kulturellen Unterschiede weitgehend nivelliert: Der Weltklassespieler, der den Griff heute noch so komisch hält wie früher es alle Chinesen taten, nämlich im sogenannten Penholder Griff, kommt aus Frankreich und heißt Felix Lebrun, Weltrangliste Platz 5. Sein Bruder Alex hält die Kelle so normal wie die ersten Vier der Weltrangliste der Männer. Die kommen allesamt aus China.
Nach dem ersten Spieler mit Noppe muss man etwas suchen in der Weltrangliste; und die Beläge, die die Spieler spielen, kommen längst nicht nur aus dem Mekka der Billigprodukte, eben jenem China. Sie kommen auch aus Deutschland, aus Schweden, aus Frankreich. Die Marken, die man sich merken muss, steigt man ernster in den Sport ein, heißen Joola, Donic, Butterfly, Stiga oder DHS. Wer sich noch an Schildkröt erinnern kann, ist alt.
6: Qualität
Wie bei allem, ist auch hier Qualität gefragt. Die kann aber pro Schläger schon bei 30 Euro anfangen. Und knapp 500 Euro für den aktuell teuersten Schläger der Welt müssen erst mal getoppt werden. Tischtennis kann also ein teurer Spaß werden, insgesamt aber niemals so teuer wie Tennis. Tischtennis kann aber auch ein sehr billiger Spaß werden, irgendeine alte Kelle findet sich bestimmt noch irgendwo und zum nächsten Park mit Steinplatte ist es bestimmt nicht weit.
7: Bier in der Hand, Flaschenpfand
Die andere Möglichkeit ist natürlich der gute, alte Club. Also der mit ohne Tanzfläche, aber mit DJ und einer Platte für Rundlauf. Fünfzig Menschen im Casual Look laufen ein paarmal um die Platte rum, bis sich die besten Beiden für ein Finale ergeben. Zuletzt habe ich fast eine Firmenfeier in einer schottischen Erlebnisgastronomie gesprengt, als ich dauernd mit der einen Sekretärin das Finale beim Rundlauf bestritt. Die Chefs waren da schon lange ausgeschieden. Schöner Abend war das.
8: Erlebniswelt
Überhaupt ist Tischtennis eine Erlebniswelt für sich, auch im biederen Vereinswesen. Dort wartet alles von Grundschulturnhallen über ehemalige Scheunen, Festsälen oder Luftschutzbunkern als Spielstätte offiziell organisierter Vereine. Ich habe in Krankenkassenverwaltungsgebäuden gespielt, in umgenutzten Bahnhofswartehallen und Montagehallen ehemaliger Kleinindustrie. Man kann, je nachdem, in welchem Verband man antritt, gegen rüstige Alte spielen, gegen Rollstuhlfahrende, gegen Kinder, gegen junge Frauen. Manchmal alles zusammen im selben Mannschaftsmatch.
9: Die Stars
Und man kann den Stars nacheifern, den Spitzenkräften, je nach Generation. In meinen Anfängen waren Jan-Ove Waldner, Gatien oder Simonic die Stars, heutzutage sind das Fan Zhedong und Ma Long, bald dann die Lebruns oder Patrick Franziska. Auch Timo Boll war mal ganz gut.
10: Die Technik
Oft lassen diese Stars auch Bücher schreiben oder Youtube-Tutorials filmen oder Webseiten von Tischtenniserklärbären vollschreiben. Da lernt man dann was über die richtige Technik, die verschiedenen Schläge, die Strategien. Vom Aufschlag über den Topspin bis zur Ballonabwehr.
11: Matchball
Zum Schluss lasst euch gesagt sein, dass Tischtennis auch eine höchst dramatische Angelegenheit ist. Abgewehrte Matchbälle, gedrehte Spiele, Satzverlängerungen bis zum Sonnenaufgang sind keine Seltenheit. Auch ist schon so mancher Schläger an die Hallenwand geflogen, bisher war noch keiner davon von mir. Das mit der mentalen Kühle sollte nämlich auch erst mal gelernt sein.
René Hamann, Autor und Journalist in Berlin und Wien, spielte von 1987 bis 1992 und wieder seit 2022 Tischtennis auf Vereinsebene. Bei den Olympischen Spielen sind am Samstag und Sonntag die Finalspiele im Einzel.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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