Ehrlich und erfrischend?

Warum Kunstkritik sich vor pointierten Urteilen scheut – Beobachtungen zwischen Berlin und New York

  • Charlotte Eitelbach
  • Lesedauer: 5 Min.
Das Ausstellungsfestival »Photoville« in Brooklyn Bridge Park in New York City
Das Ausstellungsfestival »Photoville« in Brooklyn Bridge Park in New York City

Seit einem halben Jahr verbringe ich meine Abende nun nicht mehr auf Ausstellungseröffnungen in Berlin, sondern in New York. Während der Vernissagen wird, wenn überhaupt, nur sehr oberflächlich über die ausgestellten Werke gesprochen. Oder hinter vorgehaltener Hand gelästert. Soweit nicht viel anders als in Berlin. Anders jedoch verhält es sich im Internet. Einige der New Yorker Ausstellungen werden auffallend, um nicht zu sagen provokant ehrlich auf Webseiten wie »Downtown Critic« oder »Manhattan Art Review« besprochen.

Warum aber ist ein Schreiben, das sich nicht vor Urteilen scheut, so erfrischend wie selten im Bereich der bildenden Kunst? Anlass genug, um über die Kritik im Zeitalter von schlecht bezahltem (Kultur-)Journalismus und unabhängigen Onlinefinanzierungsmodellen zu sprechen.

Nachdem ich eine Ausstellung gesehen habe, lese ich die Kritiken dazu. Auffällig ist, dass diese vornehmlich beschreiben und interpretieren, wohingegen Werturteile eher gemieden werden. Das macht sie oft kaum vom »Press Release« unterscheidbar und relativ langweilig. Dass es gegenwärtig keine sonderlich breiten Angebote an interessanter Kunstkritik gibt, ist keine neue Diagnose. Ein Grund hierfür sind vor allem die prekären Arbeitsbedingungen für (Kultur-) Journalistinnen, die ein unabhängiges Schreiben schwierig machen. Ein weiteres Problem ist die starke Gebundenheit der im Kunstbereich arbeitenden Akteurinnen. Die Grenzen zwischen den Berufsgruppen Künstlerin, Kuratorin und Kritikerin sind fließend, was kaum Abstand zum Gegenstand der Kritik zulässt. Auch die schmale Grenze zwischen privaten und beruflichen Beziehungen macht unabhängige Kritik schwierig. Wer schreibt schon gerne zu kritisch über Freunde? Außerdem will man doch weiter eingeladen werden und Jobs vermittelt bekommen.

Ich treffe einen Kritiker des »Manhattan Art Review«, Sean Tatol, im Café Gitane in Downtown New York City. Er erzählt, dass er erst vor ein paar Jahren von San Francisco nach New York gezogen sei, was für den nötigen kritischen Abstand zur hiesigen Kunstszene gesorgt hätte. Außerdem erhält er ein monatliches Stipendium, das momentan seinen Lebensunterhalt absichert und ihm die hauptberufliche Tätigkeit als Kunstkritiker ermöglicht. In seinem Blog bespricht Tatol vornehmlich Ausstellungen in kleineren Galerien, über die sonst eher nicht geschrieben wird. Mit einem Fünf-Sterne-System, ähnlich dem von Google, bewegen sich seine Bewertungen von »awful« (schrecklich; ein Stern) bis »great« (großartig; fünf Sterne).

Wer schreibt schon gerne zu kritisch über Freunde? Außerdem will man doch weiter eingeladen werden und Jobs vermittelt bekommen.

Die Printserie Punctum vom deutsch-österreichischen Maler Anselm Kiefer, die zurzeit in der Gagosian Gallery zu sehen ist, bekommt von ihm zwei Sterne, das heißt »bad« (schlecht). Dies begründet der Kritiker in fünf Sätzen, beginnend mit: »I can’t take Kiefer’s heavy-handedness seriously. ›Ooh, it kind of looks like the rubble of Germany after the war, I’m so scared!!‹« (Ich kann Kiefers Unbeholfenheit nicht ernst nehmen. ›Ooh, das sieht irgendwie aus wie die deutsche Trümmerlandschaft nach dem Krieg, ich habe große Angst!!‹) Ich muss beim Lesen lachen und habe das Gefühl, ich höre einem Bekannten zu, der eine gerade besuchte Ausstellung zerpflückt. Tatol bewertet die subjektive ästhetische Erfahrung, die er während eines Galerie-Besuchs macht und verzichtet auf Analyse oder gar politischen Diskurs. Dadurch wirken seine Texte spontan, ehrlich und irgendwie lässig. Und genau diese Eigenschaft macht sie streitbar und schafft Zugang. Solche Kritiken wecken Lust darauf, zuzustimmen oder zu widersprechen – und, was wohl das Wichtigste ist, sich selbst ein Urteil zu bilden.

Seit meinem New-York-Aufenthalt hat sich mein Google-Lesezeichen neben »Manhattan Art Review« unter anderem auch um die Website »Downtown Critic« erweitert. Etwas ausführlicher, aber mitunter nicht weniger kritisch, besprechen hier verschiedene Autor*innen vornehmlich Ausstellungen im US-amerikanischen Raum, aber auch in größeren europäischen Städten wie Paris oder Berlin. Als ein weiteres Format für unabhängige Kunstkritik ist »New Models« zu erwähnen. Die Plattform widmet sich in Audio-Formaten vor allem Phänomenen rund um die Post-Internet-Art. Obwohl einige der Ausstellungsbesprechungen und Interviews den wünschenswerten Abstand zum Gegenstand nicht aufweisen und mitunter in Selbstreflexionen abgleiten, ist das Podcast-Format, das sich über Patreon (eine Crowdfunding-Plattform) finanziert, ein nennenswerter Akteur im Feld unabhängiger Online-Kunstkritik. Auch bei New Models wird eine starke Verwobenheit der Städte New York und Berlin deutlich. Die Hosts der Plattform, Caroline Busta und Lil Internet, haben ihren Lebensmittelpunkt vor einigen Jahren von New York nach Berlin verlagert, was einer bunten Mischung an Themen und Gästen zugutekam.

Ohnehin ist die Vernetzung der beiden Städte im Bereich der bildenden Kunst bemerkenswert. Historisch ist New York erst durch die Migration von verfolgten Kulturschaffenden aus Europa im Zuge des Zweiten Weltkriegs zu dem kulturellen Knotenpunkt geworden, als der die Stadt noch heute gilt. Seit jedoch die Kosten für Lebenshaltung und Mieten für weniger etablierte Künstlerinnen kaum noch zu zahlen sind, hat New York als Produktionsstandort zunehmend an Relevanz verloren. Austausch und Residency Programme, wie sie vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) oder Fulbright geboten werden, haben vielen New Yorker Künstlerinnen einen ersten Aufenthalt in Berlin ermöglicht. Einige von ihnen sind aufgrund der vergleichsweise geringen Lebenshaltungskosten sowie guten öffentlichen Förderstrukturen geblieben. Sie sind prägender Bestandteil der Berliner Kunstszene geworden, halten aber zugleich auch den Kontakt zum wesentlich umschlagreicheren New Yorker Kunstmarkt aufrecht. »Produce in Berlin, sell in New York!« heißt es. (Arbeite in Berlin, verkaufe in New York!)

Zusammenfassend ist festzustellen: Die Potenziale der Digitalisierung sind für ein kritisches Schreiben und Nachdenken über Kunst längst nicht ausgeschöpft. Auf der Achse Berlin-New York entstehen Formate abseits von Institutionen und Verlagen, die Lust machen, sich mit Kunst zu beschäftigen.

Charlotte Eitelbach studiert bildende Kunst an der Universität der Künste Berlin und war mit einem Fulbright-Stipendium ein Sommersemester am Pratt Institute in New York.

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