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Elisabeth Abegg: Helferin der »so maßlos ungerecht Betroffenen«
Vor 50 Jahren starb Elisabeth Abegg, eine der wenigen »stille Heldinnen« des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus
Einmal, als sie auf der Treppe einem SS-Mann begegneten, soll die kleine Evy in Todesangst losgeschrien haben. Der Vater war zuvor mit der Fünfjährigen auf dem Arm in fiebernder Hast vor den SS-Leuten geflohen. Und tatsächlich erinnert sich Evy Woods noch heute daran: »Wenn man aus der Wohnung kam, da wohnte ein SS-Mann, einen halben Stock tiefer.« Die Telefonverbindung nach Übersee knarzt. Die alte Dame aber ist gut zu verstehen. »Wenn ich diese ganze Garnitur sah, den Mantel, den Ledermantel und diesen Hut, dass ich dann immer furchtbar geschrien hab, wenn ich den sah und die wussten natürlich nicht, warum.« Während sich in Berlin der Tag in den Abend verliert, ist es am anderen Ende der Leitung – in Spokane, im US-amerikanischen Bundesstaat Washington – später Morgen. Irgendwo kläfft ein Hund. »Der ist jetzt schon 16 Jahre alt«, sagt sie und lacht in den Hörer. »Weiß gar nicht, woher der die Kraft zum Bellen nimmt.«
Evy Woods, die im März 1943 noch Evelyn Goldstein hieß, ist einer der letzten Menschen, die noch eine eigene Erinnerung an Elisabeth Abegg haben: eine zwangspensionierte Lehrerin und freikirchliche Quäkerin, die während der Nazizeit ein Netzwerk zur Hilfe für Verfolgte aufbaute. »Das war eine gütige, sanfte und doch energische Person«, sagt die heute 86-Jährige, sie habe einen gesunden Menschenverstand gehabt. »In ihrer Nähe ging es einem wohl, ging es einem gut. Ob da gekocht wurde oder Mut zugesprochen.«
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Widerstand durch Hilfe
Aktive Hilfe für rassistisch, antisemitisch und politisch Verfolgte war im Nachkriegsdeutschland, auch in der DDR, lange Zeit eine gänzlich unbeachtete Form des Widerstands gegen die Hitlerdiktatur, für die sich die Geschichtswissenschaft erst sehr spät zu interessieren begann. So wurden auch jene Protestanten vernachlässigt, die ihren Mut aus einer tiefen christlichen Motivation schöpften, aber mit der eigentlichen Kirche nichts zu tun haben wollten. Denn zur Erinnerung: Von den großen Sozialmilieus der Weimarer Republik hatte sich kein anderes so offen und aufnahmebereit gezeigt für die Ideologie der Nazis wie das kleinbürgerlich-protestantische. Das Gros der evangelischen Amtsträger begrüßte den Niedergang der parlamentarischen Demokratie und die Entwicklung hin zu einer totalitären Diktatur. »Wir wollen wieder Deutsche sein!«, rief der spätere EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius in seiner Festpredigt am »Tag von Potsdam«.
Und doch: Die kleinste aller evangelischen Freikirchen in Deutschland, die Quäker, gegründet Mitte des 17. Jahrhunderts in England, sollte dem völkischen Ungeist widerstehen. Schon im April 1933 verschickte der Arbeitsausschuss der »Religiösen Gesellschaft der Freunde«, wie es auch heute korrekt heißt, intern einen Brief, der nicht an Außenstehende weitergegeben werden durfte und dessen Inhalt betonte, dass der »Geist Gottes« in allen Menschen wohnt. Außerdem war zu lesen: »Wir ermahnen alle Mitglieder, diesen Geist der Gewaltlosigkeit, der Freundschaft, des Friedens und der Hilfsbereitschaft in voller innerer Verantwortung und Bereitschaft überall dort kundzutun und zu betätigen, wo sie seelische und andere Not sehen. Jeder hat die Möglichkeit dazu in seinem Kreise.«
Freilich waren die Quäker keine Widerstandsorganisation. Doch einige ihrer knapp 300 Mitglieder in Deutschland wagten den Schritt von der Kontemplation zur Aktion. So auch Elisabeth Abegg, die gemeinsam mit ihrer Schwester Julie den Verfolgten im NS-Regime half – zum Beispiel mit Essen. Man stelle sich vor: In den Jahren der Shoah gab es mitten in Berlin eine Adresse, in der sich Juden und Jüdinnen, die sich in der Stadt versteckt hielten, einmal pro Woche satt essen konnten. Liselotte Pereles, damals Mitte 30 und auf der Flucht, erinnerte sich 1957 in einer privaten Festschrift zum 75. Geburtstag von Elisabeth Abegg: »Jeden Freitag während zwei langer Jahre, in denen Millionen von Menschen in Europa ermordet wurden, war Mittagstisch bei den Schwestern Abegg für viele jüdische Flüchtlinge. Das Essen für sie kochtest du selbst …« An jene Freitage erinnerte sich in derselben Festschrift auch die jahrelang untergetauchte Charlotte Herzfeld. Und wie Liselotte Pereles sprach sie ihre Beschützerin direkt an: »Oft war ich nicht allein bei dir. Ich wusste nicht einmal, dass der andere Tischgast auch illegal lebte. Noch heute sehe ich die mich damals sagenhaft anmutende Schüssel vor mir, mit dem Haferflockenbrei, der mit Milch gekocht und richtig gesüßt war, denn dieser Brei begeisterte mich immer wieder.«
»Ungeheuer bedeutsam«
Auch wenn die Mahlzeiten nur sehr einfach gewesen seien, sagt die Historikerin Martina Voigt, »Essen und satt werden, an einem gedeckten Tisch sitzen und mit Genuss essen, war ungeheuer bedeutsam.« Voigt ist freie Mitarbeiterin der Berliner Gedenkstätte des Deutschen Widerstands und führt durch die Ausstellung »Stille Helden – Widerstand gegen die Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945«. Über das Hilfsnetzwerk der Elisabeth Abegg hat sie das Buch »Einig gegen die Trägheit der Herzen« geschrieben, das 2022 im Lukas-Verlag erschien. Voigt sagt, allein dieser wöchentliche Mittagstisch widerspreche der Nachkriegslegende, man habe ja nichts tun können. Und natürlich habe die Gastgeberin dazu lediglich handverlesen Verfolgte eingeladen, die sich bei ihr satt essen konnten.
»Aber das Essen war nur ein Punkt«, sagt Voigt und verweist nochmals auf die Danksagung von Liselotte Pereles aus der privaten Festschrift von 1957, die im Buch abgedruckt ist. An Elisabeth Abegg schreibt sie: »Aber du gabst uns an diesen Freitagen nicht nur diese leibliche Nahrung. Für zwei Stunden gingen Gespräche und Gedanken in die Welt der Kunst und Wissenschaft und ließen uns vergessen, dass wir nicht mehr wie Menschen leben durften. Herr Schäfer, der besonders unter seiner Ausschaltung aus seiner früheren Lehrtätigkeit und der Teilnahme am geistigen Leben litt, fand besonderen Trost in diesen Stunden. ›Ohne den Freitagmittag bei den Schwestern Abegg hätte ich die Zeit der Illegalität später nicht überlebt‹, äußerte er später oft.«
Martina Voigt betont die Besonderheit einer solchen Gesprächssituation, die für die Beteiligten sicher war. Die Verfolgten konnten sich hier auch einmal frei fühlen, über ihre Nöte sprechen oder aber auch über ganz andere Dinge mit Gleichgesinnten, kulturelle Belange, was immer sie bewegte. »Es sollte auch ein Freiraum sein, um sich geistig-seelisch zu erholen. Das haben die beiden Schwestern Abegg offenbar über Jahre hinweg regelmäßig ausrichten können.«
Elisabeth Abeggs Beweggründe
An dem Haus am Tempelhofer Damm 56, in dem Elisabeth Abegg damals mit ihrer behinderten Schwester Julie in einer Wohngemeinschaft lebte und zumeist nacheinander zwölf jüdische Menschen versteckte, erinnert heute eine Gedenktafel. »Es war eine Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung, wo sie mit ihrer Schwester lebte«, sagt Martinas Voigt im Gespräch. »Kann man sich also vorstellen, was das bedeutete, wenn da noch weitere Personen versteckt lebten.« In ihrem Buch berichtet Voigt von einem erweiterten Kreis von Menschen, die Elisabeth Abegg zwar nicht aufgenommen hat, für die sie aber zum Überleben, zum Finden weiterer Hilfe beigetragen hat.
Den Nationalsozialismus hatte Elisabeth Abegg schon in den Jahren der Weimarer Republik abgelehnt, als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Außerdem engagierte sie sich in der »Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost« (SAG), einer Bildungseinrichtung für die unteren Schichten. Abegg leitete den »Klub« junger Arbeiterinnen. Als Lehrerin für Geschichte, Latein und Französisch arbeitete sie an der gleichen Luisen-Mädchenschule wie Elisabeth Schmitz, die sich später in der Bekennenden Kirche für verfolgte Juden und Christen jüdischen Glaubens einsetzte. In ihrem Denken und Handeln aber wirklich geprägt war Elisabeth Abegg durch die Begegnung mit dem Theologen und Arzt Albert Schweitzer. Dessen Ausspruch »Das bequeme Wort: Das geht mich nichts an, das gibt es für Christen nicht« sollte auch ihr Credo werden. All das beschreibt Martina Voigt in ihrem Buch. Und auch, dass vielleicht nicht die Liebe zu Gott Elisabeth Abegg dazu bewegte, jüdischen Verfolgten zu helfen.
Nach Beginn der Deportationen am 18. Oktober 1941 sei auch ihre Freundin Anna Hirschberg als Christin jüdischer Herkunft von der Verschleppung bedroht gewesen. Abegg wollte sie verstecken und versuchte, sie zur Flucht zu bewegen. »Doch die zehn Monate ältere Hirschberg, die am 4. Mai 1941 ihren 60. Geburtstag begangen hatte und zudem an einer fortschreitenden Augenerkrankung litt, willigte nicht ein.« Die Strapazen eines Lebens im Untergrund habe sie sich wohl nicht mehr zugetraut, überhaupt wollte sie die Freundin nicht gefährden. Als Anna Hirschberg dann Anfang Juli 1942 die Aufforderung zur Deportation erhält, kann Elisabeth Abegg sie nicht retten.
Anna Hirschber g wird am 10. Juli 1942 mit dem 19. Berliner »Alterstransport« in das Ghetto Theresienstadt deportiert, von wo sie am 16. Mai 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt und dort ermordet wird. Martina Voigt schreibt dazu in ihrem Buch: »Die Verschleppung Anna Hirschbergs traf Elisabeth Abegg schwer, waren sie doch vermutlich nicht nur Freundinnen, sondern Lebenspartnerinnen.«
Elisabeth Abegg gehörte Voigt zufolge zu den wenigen »stillen Helden«, die vor ihrem Entschluss zur Hilfe einen ihnen nahestehenden Menschen durch NS-Verbrechen verloren hatten. Dadurch quasi »verwitwet«, habe sie Schmerz und Zorn umgewandelt in Aktivitäten gegen das Regime. Und vielleicht habe sie auch aus dem »Mut der Verzweiflung« geschöpft.
Das Schicksal der Evy Woods
Zu den Menschen, denen Elisabeth Abegg direkt geholfen hat, auch nach dem Krieg, gehörte Evy Woods. Ihr Vater wurde in Auschwitz ermordet. Sie lebt heute in den USA, im Bundesstaat Washington, wohin sie mit ihrer Mutter in den 50er Jahren ausgewandert ist. Auf die Frage, was das Besondere an Elisabeth Abegg war, muss Evy Woods am Telefon nicht lange überlegen: »Ich mein’, die war raffiniert, wenn man das Wort benutzen kann. Ausgekocht. Ich weiß noch, sie hat meiner Mutter angeboten – hat mir meine Mutter erzählt –, ob sie falsche Papiere besorgen sollte für sie. Da war meine Mutter vollkommen empört. ›Ich werde doch nicht anfangen, hier zu lügen, wer ich bin. Das kommt überhaupt nicht in Frage!‹«
Die Historikerin Voigt geht von bis zu 80 Menschen aus, bei denen Elisabeth Abegg zumindest mitgeholfen hat, sie vor der Deportation in die Vernichtungslager zu bewahren. »Es gab eine Art Untergrundkasse, wo gesammelt wurde, Geld und Lebensmittelmarken, um die Menschen auszustatten, dann hat sie natürlich durch diesen doch recht großen Kreis, der mit ihr in Verbindung stand, Quartiere vermittelt und das war in relativ großem Maßstab.« Quartiere auch für Kinder, wie sich später Liselotte Pereles aus dem Helferkreis erinnerte: »Kinder, denen man das Lügen beibringen musste und in einem Alter, wo sie eigentlich Wahrheit und Lüge noch nicht unterscheiden konnten«. Ständig habe man in der Angst gelebt, dass die Kinder sich ausfragen ließen. »Die fünfjährige Evy fing in der Illegalität, in einem evangelischen Kindergarten, wo man sie untergebracht hatte, an, hebräisch zu beten, weil sie das vom jüdischen Kindergarten her so kannte. Sie musste sofort entfernt werden und wieder das Quartier wechseln.«
An den Kindergarten kann sich Evy Woods heute nicht mehr erinnern. Sie weiß aber noch, dass sie eine Zeit lang bei einer Ärztin untergebracht war. »Und die hatte ein verstorbenes Kind. Die hat mir die ganzen Kleider und Spielzeug gegeben, während ich bei ihr war. Und ich dachte, dass ich da irgendwie komisch gebetet hab’.« Aber das sei lange her, sagt sie. Das Thema Religion interessiere sie nicht. »Ich hab’ seitdem nie wieder gebetet, das sage ich Ihnen. Der liebe Gott kann sich das in den Popo stecken von mir aus.« Während der »Fabrikaktion« Ende Februar 1943, der massenhaften Verhaftung und Deportation der letzten in Berlin noch legal lebenden jüdischen Familien, waren Evys Eltern mit ihr in den Untergrund gegangen. Von ihrer Mutter weiß sie, dass der Vater damals gesagt hat: »Wenn ick dit überlebe, ick muss nicht jüdisch sein.« Der frühere Handelsvertreter Ernst Morry Goldstein, seine Ehefrau, die ehemalige Buchhalterin Herta, geborene Loschinski, und die gemeinsame Tochter Evelyn Goldstein, sie waren nicht die einzigen Verfolgten, die ihren Glauben verloren hatten.
Eine große Ausnahme
Über die kleine Evy schrieb 1957 in der besagten Festschrift auch Hildegard Arnold, geborene Knies, eine ehemalige Schülerin Elisabeth Abeggs, die dann zu ihrem Helferkreis zählte: »Weißt du noch, wie schnell Julie die illegal lebende Evy eingekleidet hatte? Zunächst bekam sie von ihr zwei Schlafanzüge genäht. Julie hatte noch einen guten alten Bettbezug. Jeden Abend waren wir von neuem froh (…), dass Evy noch nicht lesen konnte. Uns würgte es jedes Mal in der Kehle, denn der Schlafanzug hatte in Längsstreifen von roten Herzen und Girlanden umrahmt, den sich immer wiederholenden Aufdruck: ›Trautes Heim – Glück allein‹.« Weil der Bericht an Elisabeth Abegg direkt adressiert war, die diese Geschichte ja kannte, kann es am Wahrheitsgehalt keinen Zweifel geben. »Und wie hast du dafür gesorgt, dass Evy immer wieder in neue Quartiere kam, wo man gut zu ihr war.«
In ihrem Buch über Elisabeth Abegg erzählt Martina Voigt davon, dass die kleine Evy Goldstein dank der Hilfe von Elisabeth Abegg und der Vermittlung von Elisabeth Schmitz Ende Juni 1943 auf das ostpreußische Gut Blöstau/Post Kuggen (heute russisch Wischnjowka) gebracht wurde, wo sie bei der Familie von Adolf Bunke lebte. Der Justiziar der Bekennenden Kirche nahm Evy wie ein Familienmitglied auf, ebenso Evys Mutter, die ihr Monate später folgte. Das Bemerkenswerte daran: Eben dieser Adolf Bunke hatte 1935 einen Leserbrief an den »Stürmer« geschrieben, in dem er sich gegen die Diffamierung eines Bekenntnispfarrers wandte, der aus einer jüdischen Familie stammte.
Daraufhin wurde Bunke aus der NSDAP ausgeschlossen – ungeachtet seiner Erklärung, dass er die gesetzlichen Beschränkungen gegen die jüdische Bevölkerung unterstütze, jedoch Gewalt und Willkür als »unnationalsozialistisch« ablehne. Denn der »fremdrassige Gast des deutschen Volkes« habe, solange er sich entsprechend benehme, ein Recht auf Achtung und als Christ einen Anspruch auf Hilfsbereitschaft. Bunke weiter: »Diese Auffassung hindert mich nicht, dafür einzutreten, dass der beschränkte Lebensraum des deutschen Volkes durch Fremdrassige nicht eingeengt und dass der auf dem Volk der Juden ruhende Fluch Gottes dem deutschen Volk nicht zum Verhängnis wird.« Der Mann, der diese Sätze geschrieben hat, sollte schon bald wissentlich zwei jüdische Menschen, Mutter und Tochter, bei sich aufnehmen und vor der Verfolgung schützen, nachdem er selbst acht Monate in den Konzentrationslagern Lichtenburg und Buchenwald eingesperrt war.
Das Ehepaar Adolf und Frieda Bunke wird heute in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem als »Gerechte unter den Völkern« geehrt. Im Netzwerk der Elisabeth Abegg waren beide die große Ausnahme. Alle anderen Helfer und vor allem Helferinnen haben, soweit bekannt, den Nationalsozialismus bereits 1933 vehement abgelehnt.
Elisabeth Abegg hat über ihre Hilfe selbst nie Worte verloren. Einmal habe sie es getan, sagt Martina Voigt, als der amerikanische Sozialforscher und Politologe Manfred Wolfson in den 60er Jahren eine Untersuchung über die Helfer von Verfolgten in Deutschland initiierte. Eigens dafür habe er einen Fragebogen entwickelt und sei damit nach Deutschland gekommen, um Interviews zu führen, auch auf Tonband. Von Elisabeth Abegg ist jedoch nur ein ausgefüllter Fragebogen erhalten geblieben und noch dazu eine kleine Korrespondenz mit Manfred Wolfson. Auf einer Postkarte schrieb sie ihm: »Der Beweggrund für mein Handeln: in erster Linie der menschliche Anteil an dem furchtbaren Schicksal der so maßlos ungerecht Betroffenen, der Wunsch, ihnen zu helfen, soweit es möglich war & dann auch überhaupt die völlige Ablehnung des N.S. Regimes.«
Auch nach dem Krieg bedroht
Abeggs Schweigen nach dem Krieg hatte aber noch andere Gründe. Ihre Biografin Voigt spricht von einem Bedrohtheitsgefühl, »denn die alten Nazis waren noch nicht verschwunden«. Bei Elisabeth Abegg sei das besonders tragisch verlaufen. Als ihr 1957 das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, berichtete die Presse darüber. Mit der Folge, dass sie eine Morddrohung ins Haus bekam und eine Zeit lang unter Polizeischutz leben musste. Als sie dann zehn Jahre später von Yad Vashem als »Gerechte unter den Völkern« geehrt werden sollte, bat Elisabeth Abegg darum, diese Ehrung nicht in Deutschland vorzunehmen, sondern wenn sie das nächste Mal zu ihren Verwandten in die Schweiz fahre. Und so geschah es dann auch: Die Insignien der Auszeichnung wurden ihr in Zürich verliehen.
Im Berliner Regierungsviertel ist heute eine Straße nach Elisabeth Abegg benannt, mit einer Feuerwache und einem Biergarten, ohne Wohnadresse. In der Elisabeth-Abegg-Straße wohnt kein Mensch. Außerdem gibt es in Prenzlauer Berg noch die Elisabeth-Abegg-Grundschule.
»Ich glaube, sie hatte eine Tendenz, glücklich zu sein, in jeder Situation das Gute zu sehen«, sagt Martina Voigt. Bei der Recherche zum Buch habe sie Briefe gesehen aus der Nachkriegszeit, in denen Elisabeth Abegg schrieb, wie viele Bekannte sie habe und wie viele Reisen sie mache, wie sehr sie sich über den großen Freundeskreis freue und wie ihr das alles lieb und teuer sei. »Und sie war ja auch sehr aktiv, solange es noch ging; sie ist über 90 Jahre alt geworden und war nur in den letzten zwei Jahren etwas schwächlich.«
Vor 50 Jahren, am 8. August 1974, verstarb Elisabeth Abegg in Westberlin.
Literatur:
Martina Voigt: Einig gegen die Trägheit der Herzen – Das Hilfsnetzwerk um Elisabeth Abegg zur Rettung jüdischer Verfolgter im Nationalsozialismus. Lukas-Verlag 2022, 335 S., br., 24,90 €.
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