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Marxistische Verhältnisbestimmungen
Wie verhält sich der Marxismus zu Praxis und Theorie der Dekolonisierung? Dieser Frage widmete sich jüngst eine Sommerschule in Frankfurt
Sozialwissenschaftliche Fragen lassen sich, anders als in den Naturwissenschaften, nicht mit Experimenten beantworten – zumindest wenn es um die großen historischen Zusammenhänge geht. Wir können zum Beispiel nicht experimentell zeigen, ob und wie Kapitalismus ohne integralen Sexismus entstehen und sich entwickeln würde. Ebenso wenig können wir einfach aus gegebenem Datenmaterial ablesen, in welchem Verhältnis Kolonialismus und Kapitalismus stehen. Geht der eine dem anderen voraus? Oder sind umgekehrt gerade die Logiken des Kapitals immer schon in konkreten Expansionsbewegungen eingelassen?
Vor jeder empirischen Erhebung müssen solche Fragen, ob man will oder nicht, Gegenstand einer hoffentlich wohlüberlegten Begriffsbildung gemacht werden. Auch der Marxismus ist einst mit dem Anspruch aufgetreten, sich mit solchen im Alltagsverstand schwer fassbaren, notwendig theoretischen Verhältnisbestimmungen auseinanderzusetzen. Was dann vielleicht als überflüssige philosophische Spekulation oder gelehrtes Daherreden erscheint, gewinnt aus Perspektive von Betroffenen eine politische Brisanz. Denn Menschen, die unmittelbar mit den Nachwirkungen und Nebenfolgen von europäischer kolonialer Praktiken in Berührung gekommen sind, haben verständlicherweise ein Interesse an belastbaren Antworten auf solche vermeintlich abstrakten Fragen darüber, wie die gewachsenen Abhängigkeitsverhältnisse wirklich effektiv abgebaut werden können – und auch ein Recht darauf.
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Der paradoxe Kapitalismus
Vom 22. bis 24. Juli kamen etwa 100 Menschen im Studierendenhaus auf dem Campus Bockenheim in Frankfurt am Main zusammen, um genau diese Fragen zu diskutieren. Unter dem Motto »Marxismus und Dekolonialität« ging es bei der Summer School drei Tage lang um die Biografien von Personen aus marxistischen Widerstandsbewegungen und um deren Blick auf die großen Fragen von Geschichte und Gesellschaft. Organisiert wurde die Veranstaltung von Benjamin Musić und Erkut Bükülmez zusammen mit der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung. Ein besonderer Fokus der Konferenz lag auf der Differenz zwischen den sogenannten postkolonialen Theorien einerseits und dekolonialen Traditionen andererseits. Hierzu gab es etwa Vorträge und Workshops von Kolja Lindner aus Paris, sowie zur Rezeption des peruanischen Theoretikers José Mariátegui und dem französischen antikolonialen Vordenker Frantz Fanon.
Als eine der größten Herausforderungen der Verhältnisbestimmung von kapitalistischer und kolonialer Herrschaft stellte sich dabei der paradoxe Charakter des Kapitalismus heraus. Dieser breitet sich nämlich einerseits global aus und macht dabei tendenziell nicht nur alles mögliche zur Ware und setzt auch ganz verschiedene Lebensräume miteinander in Beziehung. Andererseits kommt es dadurch aber nicht zu einer Angleichung der Lebensweisen untereinander, sondern zu einer Vergrößerung der Unterschiede. Die Entstehung einer bürgerlichen Klasse in Europa beispielsweise, die sich zwischen alte Ober- und Unterklassen schiebt und selbst zur neuen vorherrschenden Lebensweise wird, zieht mitnichten automatisch eine ähnliche Entwicklung in anderen Erdteilen nach sich.
Im Gegenteil: Die Entwicklung ganzer Kontinente wurde unterbunden, damit die nötigen Rohstoffe für die Entstehung einer bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft zur Verfügung stehen konnten. Möglichst billig sollte Zucker, Wolle und Dünger herangeschafft werden; aber gleichzeitig musste diese Ausbeutung auch möglichst grausam vonstattengehen – selbst dann, wenn es rein ökonomisch längst nicht mehr rational war. Denn ebenso wichtig wie die ökonomische Ausbeutung war die Aufrechterhaltung einer extrem hierarchischen, rassistischen Differenz und strukturellen Abwertung alles nicht-europäischen, der Menschen und ihrer Kultur gleichermaßen. Statt von einer Entwicklung hin zu gleichem Tausch zwischen gleichberechtigten Vertragspartnern, so wie die globalen Zentren ihre Reichtumsverteilung gerne selbst beschreiben, musste im kolonialen Raum gerade von einer gezielten Unterentwicklung die Rede sein. Dieses Phänomen, so der allgemeine Tenor auf der Summer School, lasse sich auch heute noch am besten mit den intellektuellen Werkzeugen des Marxismus begreifen.
Einer der zentralen Denker, die diese Unterentwicklung beschreiben, war der panafrikanische Historiker Walter Rodney. In ihrem Vortrag über sein Werk wandte sich die Autorin Bafta Sarbo gegen die Eingemeindung von historischen Figuren wie Rodney in eine moderne, in erster Linie pluralistisch orientierte Publikations- und Theorielandschaft. Gerade Rodney, so Sarbo, verstünde sich wie viele Denker seiner Generation nicht als Vertreter eines dekolonialen oder Schwarzen Marxismus, sondern eben als Marxist – ohne weiteren besonderen Zusatz. Die intellektuelle Mode, widerständigen Diskursen leichtfertig das Etikett »dekolonial« anzuheften, resultiere bisweilen nämlich darin, deren eigentlichen Inhalt zu übergehen und die tatsächliche materielle Dekolonisierung völlig in den Hintergrund zu drängen. Rodneys Arbeiten seien vielmehr gerade der Versuch, Marx’ Denken nicht als europäischen Spezialfall darzustellen, sondern als Schritt hin zu einer allgemeinen Theorie von Geschichte zu verstehen.
Bloß westliches Denken?
Für lange Zeit galt genau diese Denkweise jedoch als überholt. Besonders im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde neben Ausbeutung, ungleichen Verhältnissen und blockierter Entwicklung auch das Thema der epistemischen Gewalt entdeckt. Gemeint ist damit gerade nicht die physische Gewalt, die den Kolonialismus begleitet, sondern die intellektuelle Dominanz, die er auf Menschen, kulturelle Systeme ausübt – und zentral eben auch auf die eingangs erwähnte sozialwissenschaftliche Modell- und Begriffsbildung. Das Skandalöse am Kolonialismus wäre dementsprechend nicht nur die gezielte Unterentwicklung von Gesellschaften, sondern vor allem die Verbreitung eines in hohem Maße beschränkten Begriffs davon, was überhaupt als Entwicklung gelten darf.
Der Streit dreht sich vereinfacht gesagt darum, wie stark die europäisch geprägten Ideen von Fortschritt und Entwicklung wirklich nur die besonderen Interessen einer relativ kleinen Klasse von Menschen ausdrücken, oder ob darin nicht dennoch auch verallgemeinerbare und universale Prinzipien angelegt sind. Ein großer Teil der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Theorien zum Thema Kolonialität dreht sich heute um die Frage, wo diese Grenze wohl zu ziehen sei.
Diese Grenzziehung geht auch mitten durch den Marxismus. Der Chicagoer Soziologe Julian Go hatte bereits 2013 plakativ darauf hingewiesen, dass selbst gutgemeinte, klassisch marxistisch anmutende Fragestellungen wie »Warum entwickelte die indische Arbeiterklasse kein revolutionäres Bewusstsein?« wenig weiterhelfen und oft sogar Schaden anrichten. Sie würden die Vorstellung verbreiten, die Entwicklung des indischen Kolonialismus sei mit den Kategorien der Ausbeutung englischer Arbeiter*innen zu analysieren. Die tatsächliche Unvergleichbarkeit beider Seiten werde dabei ausradiert. Denn akzeptiert man erst einmal die plausible Sichtweise, dass auch die Erfolge der englischen Arbeiterklasse sich zu einem wichtigen Teil nur durch die Inanspruchnahme von Leistungen aus dem britischen Empire erklären lassen, wird zumindest das Bild von den Arbeiter*innen als einzige oder zumindest wesentliche revolutionäre Kraft fragwürdig.
Verwandte Überlegungen finden sich bei dem libanesischen Marxisten Mahdi Amel, dessen Werk auf der Konferenz von dem Kieler Islamwissenschaftler Lauan Al-Khazail in Frankfurt vorgestellt wurde. An Amel werde deutlich, wie umkämpft die Begriffe des dekolonialen Kampfes in der Praxis waren beziehungsweise sind. Amel weise einerseits die Position des Theoretikers Edward Said zurück, der auch den Marxismus als einen »Orientalismus« verstand – also als romantisierende Illusion eines fiktiven äußeren Gegenteils zur europäischen Welt. Der Orient werde darin nicht wirklich studiert, sondern nur als Projektionsfläche für europäische Phantasien gebraucht. Amel stehe dagegen für das Projekt, den Marxismus für die antikolonialen Kämpfe wirklich nutzbar zu machen, anstatt seine Projektionen zu dekonstruieren. Andererseits wende sich Amel gegen die Versuche arabischer bürgerlicher Intellektueller, die Fiktion eines genuin arabischen Denkens zur Grundlage nationaler Befreiungsprozesse zu machen. Eine Absage an marxistische Vorstellungen von Befreiung passt diesen Versuchen durchaus ins Konzept.
Beständig in Bewegung
In ähnlicher Form wurde die Debatte bereits im revolutionären Russland geführt: Wie kommt es, dass die Revolution gerade an einem Ort mit relativ gering entwickelter Industrialisierung erfolgreich war? Kann die Phase einer bürgerlichen Gesellschaft auf dem Weg zum Sozialismus übersprungen werden? Eine Antwort müsste berücksichtigen, dass die Durchsetzung bürgerlicher Werte und Institutionen nicht notwendigerweise die Entstehung einer tatsächlichen Bourgeoisie abwarten muss. Ebenso wenig müssen die Sozialwissenschaften passiv und geduldig auf die Ergebnisse aus den »Experimenten« des Verlaufs der Geschichte warten.
Auch der Sozialphilosoph Ivo Eichhorn zeichnete zum Abschluss der Konferenz ein Bild von Marxismus als beständig in Bewegung und Weiterentwicklung befindlicher intellektueller Tradition. Existenzielle philosophische Fragen – was ist, braucht, will der Mensch? Nach welchem Gesetz verläuft die Geschichte? – ließen sich ohnehin nicht beantworten. Der Marxismus täte deswegen gut daran, die Kämpfe um diese Meta-Sprachspiele eher auszulagern, als sie auf biegen und brechen entscheiden zu wollen. Wenn man es richtig anstellt, also nicht falschen Verallgemeinerungen auf den Leim geht und sich nicht nur auf die Dekonstruktion westlicher Denkweisen kapriziert, um einer vermeintlich authentischeren Philosophie Platz zu verschaffen, besteht eine reale Chance auf eine tatsächliche Weiterentwicklung marxistischer Theorien und Konzepte. Verdient hätten sie’s allemal.
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