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Linke Kneipe »Baiz«: »Wir sind preußische Anarchisten«
Wie betreibt man erfolgreich eine linke Kneipe in Berlin? Ein Gespräch mit Matthias vom »Baiz«
Wohnen Sie eigentlich in dieser Kneipe?
Nein, derzeit nicht. Ich mache das jetzt seit über 20 Jahren und es gab so Phasen. Jetzt ist es auch mal so, dass ich seltener hier bin. Im Moment liegt der Schwerpunkt meiner Arbeit eher hinter den Kulissen.
Hinter den Kulissen?
Ich organisiere das Kulturprogramm, layoute das Baiz-Heft, in dem wir unser aktuelles Programm vorstellen, packe immer noch ein Kreuzworträtsel zum Um-die-Ecke-Denken mit rein. Dazu kommen weite Teile des digitalen Baiz-Auftritts von Homepage über Facebook und Insta bis zum Baiz-Youtube-Kanal, wo man sich ausgewählte Veranstaltungsmitschnitte anschauen kann.
Wird das genutzt?
Ja, klar. Zu den Veranstaltungen kommen im Schnitt 20 bis 50 Leute, im Netz schauen dann noch mal 50 bis 500 Leute zu. Das verbessert das Verhältnis zwischen Aufwand und Nutzen erheblich. Aber natürlich mache ich auch sehr gerne mal den Tresen.
Matthias vom »Baiz« hat das Kneipenkollektiv 2003 mitgegründet und ist immer noch dabei. Er ist geborener Pankower und war seit der »Wende« in vielen sozio-kulturellen Bereichen von Jugendklub bis Hausprojekt sowie in diversen Politgruppen von Häuser- bis Antifa-Bewegung aktiv.
Gibt es denn Stammgäste, die sozusagen im »Baiz« wohnen?
Es gibt schon einige, die sehr häufig da sind. Früher gab es im Umfeld noch große Wohnungen, heute ist es oft nur die Ein-Raum-Butze oder du hast Familie. Dann triffst du dich natürlich lieber hier mit deinen Leuten.
Ist jeden Tag offen?
Im Sommer ab 18 Uhr und sonst ab 16 Uhr geöffnet.
Und jeden Abend gibt es eine Veranstaltung?
Fast, häufig zu Kultur und Politik, außer montags, da ist meist nur die kostenlose Mietenberatung mit Rechtsanwalt Henrik Solf. Und samstags gibt es Quiz und Karaoke und am ersten Mittwoch ein Kickerturnier. Im Moment testen wir noch einen monatlichen Spielenachmitag am Sonntag.
Was heißt Kultur und Politik?
Das geht vom knochentrockenen Politvortrag bis zur Kleinkunst. Es gibt Vorträge von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Podiumsdiskussion mit Politgruppen von Antifa bis Umweltschutz. Die Letzte Generation stellt sich monatlich der Diskussion, die FAU hat dafür einen offenen Stammtisch. Mit dem Gesellschaftsspiele e. V. geht es um Sport und die Kultur drumherum. Die »Reformbühne Heim und Welt« unterhält uns sonntags großartig, die »Roda de Choro« improvisiert traditionelle brasilianische Musik. Beim Projekt »Schaunwama« gibt es ebenfalls Gema-freie Musik, Kunst und sonstige Kultur, dazu wird live noch ein Bild gemalt und versteigert und der Gesamterlös des Abends geht an Sea Watch. Bei den Elektro-Improvisationen der »Polyphonie« werden sämtliche Boxen des Veranstaltungsraums zusammengeschaltet. Akustisch großartig – ich sag mal, wenn ich kiffen würde, wäre das eine perfekte Beschallung.
Und die Lesungen?
Wir haben enge Kontakte zu den Resten der Prenzlauer-Berg-Connection mit ihren Büchern und Zeitschriften aus dem Rumbalotte-Umfeld. »Abwärts!« und »DreckSack« releasen meist bei uns, das letzte Buch von Bert Papenfuß ist im Mai vorgestellt worden, da standen die Leute bis auf die Straße. Da war wirklich ausverkauft. Im Sinne von: es hat keiner mehr reingepasst. Meistens kostet es ja keinen Eintritt. Und für die nächste Generation gibt es die Slam-Poetry-Bühne vom Feministischen Veranstaltungskollektiv »Kunst und Krawall«.
Rockbands gibt es nicht?
Musikalisch halten wir uns ein bisschen zurück. Das Haus ist ja auch für die Nachbarn da. Wir sind eine Kneipe für den Kiez und da gehören die Nachbarn mit dazu. Und deswegen ist bei uns außer bei der Karaoke relativ strikt um 22 Uhr Schluss mit Veranstaltungen. Und wir bauen rechtzeitig den Biergarten ab – freiwillig. Die meisten Nachbar*innen grüßen uns sehr freundlich.
»Baiz« heißt Kneipe?
Ja, im süddeutschen, nordschweizerischen Raum. Das Wort steht alphabetisch weit oben, das ist praktisch für die Veranstaltungskalender. Im Süden »die Baiz«, aber Berlinernde versächlichen die Eigennamen fremder Sprachräume, ich sage deshalb »das Baiz«. Und das funktioniert auch als Abkürzung: »B« für Berlin, »IZ« für Informationszentrum und beim »A« können sich alle ihres aussuchen von alternativ, autonom, über anarchistisch und antifaschistisch – bis hin zu den anderen linken (natürlich bei uns undogmatischen) »antis«.
Das »Baiz« gehört sich selbst, ist nicht gemietet?
Ja. In der Torstraße waren wir ab 2003 zur Miete, mussten dann 2014 wieder raus, weil die neuen Besitzer das Mietshaus in Eigentumswohnungen aufteilen und uns keinen neuen Kauf- oder Mietvertrag geben wollten. Wir haben dann natürlich ein bisschen Rabatz gemacht, 6000 Unterschriften gesammelt und demonstriert. Es gab sogar Unterstützung vom Bezirk. Hat aber nicht geholfen. Glücklicherweise fand eine Freundin aus unserem Netzwerk diesen Laden, der dazu noch jemandem gehörte, der uns schon vorher kannte und sich über unsere Anfrage gefreut hat.
War das schon eine Kneipe?
Der Laden hatte in zwölf Jahren glaube ich neun Pächter – von Table Dance Bar über Telekomladen bis zu einem Bistro, denn diese Ecke der Schönhauser ist relativ tot. Der Besitzer hat uns angeboten, den Laden zu kaufen. Und dann haben wir rumgefragt, und nach vier Wochen hatten wir das nötige Geld von unseren Stammgästen zusammengeborgt.
Der Umzug von der Torstraße in die Schönhauser war legendär.
Zusammen mit der »Baiz bleibt«-Unterstützungsgruppe und den insgesamt 30 bis 50 Stammgästen, die uns auf der Baustelle geholfen haben, wurde der klammheimliche Zwangsumzug abgewählt und das Ganze als Menschenkette veranstaltet, laut Google insgesamt 992 Meter. Ziemliches Glück war der strahlende Sonnenschein im Februar, und so haben wir tatsächlich die Kette geschlossen gekriegt und wurden an dem Tag die Topmeldung in der »Abendschau«. Die Veranstaltung hatte ich sogar polizeilich angemeldet: Nach dem Umzug fragte mich der Einsatzleiter nach der Teilnehmerzahl: »Na ja, so 300 bis 400 müssten das schon gewesen sein«, sagte ich. »Also nee, das waren mindestens 600 bis 800, können se so schreiben«, erwiderte er daraufhin. Das war das erste Mal, dass ich in Berlin irgendwas angemeldet habe und die Polizei hat danach mehr Teilnehmende geschätzt als der Veranstalter. Von der ganzen Geschichte steht übrigens eine großartige einstündige Doku von Jochen Wisotzki auf unserem Youtube-Kanal.
Ist der neue Ort besser als der alte in der Torstraße?
Die Torstraße hatte den Vorteil, dass es mehr Laufpublikum gab. In der Schönhauser kommt keiner zufällig vorbei, da musst du den Laden schon vorher kennen. Was aber auch wieder ein Vorteil sein kann, weil sich das mit den Touristen in Grenzen hält. Da entert nicht auf einmal eine Riesengruppe den schon übervollen Laden, weil sie denken, dass er hip ist und du kommst dann eine halbe Stunde nicht vor und nicht zurück, musst aber mit dem Bierkasten durch.
Warum gibt es eigentlich nur Flaschenbier?
Das hat gastrotechnische Gründe: Im alten Laden war ursprünglich sogar mal eine Zapfanlage installiert, aber erstens war bei der Gründung 2003 das Fassbier gerade vergleichsweise teuer und zweitens versuchen wir die Arbeitsabläufe so anzulegen, dass sie fast immer allein bewältigt werden können. Jetzt stell dir eine Veranstaltung mit 40 bis 50 Leuten und einer zehnminütigen Pause im auch sonst gefüllten Laden vor – selbst für die Allerschnellsten ist das mit Zapferei schwer zu schaffen. Allgemein gesagt, mag ich es lieber ein bisschen konzentrierter mit Stammgästen als mit zu viel Laufpublikum, weil da besteht schon die Gefahr, dass die Leute den Laden nur noch konsumieren.
Sollen die das nicht?
Ja, klar, wir verkaufen Bier und sind darauf angewiesen. Aber eigentlich geht es auch um was anderes: um Austausch und Diskussion. Auch für mich ist es cool, wenn mir jemand was erzählt, was ich noch nicht weiß. Wohl nicht aus der FDP, bei Stalinismus oder extrem dogmatischem Anti-Irgendwas bin ich natürlich auch raus. Es gibt aber immer noch etliche Leute, bei denen trotz unterschiedlicher Positionen ein konstruktiver Austausch möglich ist, das fehlt ja heute eher.
Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.
Jeden Sonntag schon ab 19 Uhr in unserer App »nd.Digital«.
Der berühmte Spruch auf der Markise: »Kein Bex, kein Latte, kein Bullshit und dann auch noch Selbstbedienung«, den gab es schon in der Torstraße, oder?
Die Markise ist eins zu eins umgezogen, weil das Maß zufälligerweise genau übereinstimmt.
Gibt es überhaupt Kaffee?
Wir haben tatsächlich sehr guten Kaffee. Den kriegen wir von den Zapatistas aus Mexiko über eine Zwischenstation aus Hamburg.
Woher kam der Spruch?
Das war bei einer Betriebsfeier im »Due Forni« am Senefelder. Nach dem dritten Grappa kam der Spruch auf. Das war damals in der Torstraße mit den Touristen einfach so. Manche waren sympathisch, manche eher nicht. Und ein Großteil der Unsympathischeren hat eben gerne Beck’s, Latte Macchiato oder irgendwas mit Red Bull geordert.
Seitdem wurde Berlin weiter gentrifiziert.
Ja, als das »Baiz« Anfang der Nuller eröffnet hat, gab es noch Möglichkeiten, im Kiez was zu machen. Das geht wegen fehlender Freiräume heute nicht mehr so gut. Das ist ja das Fatale: Wir haben hier auch viel junges Publikum, das dann eben zwangsläufig in so eine Konsumentenrolle rutscht, weil sie keinen Ort mehr für ihre Projekte finden. Wir freuen uns da übrigens fast immer über Anfragen zur Nutzung, wenn sie denn baizkonform und in Kneipenlautstärke sind. Und auch die soziokulturelle Entwicklung hier im Kiez ist eine Katastrophe, weil es kaum noch eine Durchmischung gibt.
Das »Baiz« ist ein Kollektiv, läuft aber auf Ihren Namen?
Ja. Wir sind immer ungefähr zehn Leute von Anfang 30 bis Ende 50.
Die größten Probleme sind bestimmt keine politischen?
Wenn du über einen längeren Zeitraum in einem eher stressigen Job zusammen arbeitest, gibt es immer irgendwelche Befindlichkeiten. Meine Grundidee von zusammen arbeiten ist schon, dass es so fair wie möglich sein sollte. Über Corona gab es bei uns lustigerweise überhaupt keinen Streit. Wir wollten nicht, dass sich unsere älteren Gäste anstecken und waren deshalb sehr verantwortungsvoll. Aber auch bei anderen politischen Themen, wo sich allerorten alle streiten, ist bei uns weniger Kontroverse: Bist du jetzt für Russland oder für Ukraine, wie stehst du zum Gaza-Konflikt? Unser Konsens unterstützt da eher die jeweilige emanzipatorische Oppositionsgruppe. Zudem wollen wir natürlich, dass unsere Spelunke auch besucht wird – bei einem ganz schmalen politischen Korridor kämen viel zu wenig Leute. Und wenn man sich nur in seiner ganz persönlichen Echokammer bewegt, wird man daran auch nicht besonders wachsen. Eigentlich haben wir es hier so geregelt, dass fast alles, was kein dogmatischer Quatsch ist, irgendwie toleriert wird. Auf die ganz heißen Eisen habe ich aber keine Lust, weil das häufig ellenlange Diskussionen nach sich zieht, und dann sitzt man erst mal zwei Wochen am Rechner und beantwortet irgendwelche Posts dazu. Dafür fehlt mir Zeit und Energie. Also ich würde zurzeit zum Beispiel auch keine Gaza-Veranstaltung machen, weil ich weiß, das kann momentan nicht gut gehen.
Aber zum Beispiel die Grünen, die dürfen hier keine Vorschläge machen?
Die Grünen – das ist ja dann auch so eine Pauschalisierung. Wir hatten zum Beispiel schon das Mieterforum Pankow zu Gast, da gab es auch vernünftige Positionen mit grüner Urheberschaft. Aber wir machen keine Parteipolitik, keinen Wahlkampf, es soll um Sachthemen gehen. Auf jeden Fall besser, jemand hat Ahnung, als es soll etwas verkauft werden. Ich kann jetzt viel auf politischen Allgemeinplätzen über Justiz oder Knäste reden, aber wenn dann eine ehemalige Justizsenatorin oder ein langjährig Inhaftierter hier sitzt, erfährt man eben doch deutlich mehr.
Begreift sich das »Baiz« als anarchistisch?
Ich sage oft scherzhaft, wir sind preußische Anarchisten, also schon irgendwie libertär, aber dabei zuverlässig. Ob sich der Laden jetzt wirklich freiwillig in irgendeine Schublade legen muss, das weiß ich nicht.
Es gibt nicht mehr so viele explizit linke Kneipen in Berlin.
Stimmt, auch wenn ich nicht so genau weiß, welche Kriterien man für den Titel »Linke Kneipe« erfüllen muss. Das Problem ist nicht nur die Gentrifizierung, die Studierenden Anfang der 90er waren noch gelegentlich in der Uni. Jetzt ist es so, dass sie nur gelegentlich mal außerhalb der Uni sind. Durch die höheren Mieten musst du im Alltag funktionieren und für das kulturelle Leben und die eigene Weiterentwicklung bleibt weniger Zeit. Da muss sich dann selbst ein »linker Laden« viel mehr Mühe geben und das funktioniert eben nicht mehr so nebenbei, wie das vielleicht früher mal war.
Gibt es Streit um die Musik?
Nö. Hier gibt es Barockmusik über Pop bis Punk. Der Standard ist sicher Independent Musik mit eher härteren Gitarren, gerne auch mal mit folkloristischem Einschlag. Wichtig ist nur, dass sie zum jeweiligen Raumklima passt.
Wie teuer ist ein Bier?
Im Zuge von Corona mussten wir das große Berliner auf 2,90 Euro erhöhen. Und das Hefe auf 3,20 Euro.
Und das Glas Wasser?
Gibt es auf Nachfrage. Aber du kriegst die 0,7-Liter-Flasche bei uns für 1,50 Euro. Wir wollen den Leuten, die nicht so viel Geld haben, trotzdem die Möglichkeit geben, hier mit einem Getränk verweilen zu können. Mit 3 Euro kommst du dann schon bequem über den Abend – bei Interesse sogar mit dem meist kostenlosen Kulturprogramm.
Noch was?
Vielleicht ein kräftiges Dankeschön an alle, die das Projekt jemals unterstützt haben – ohne Euch wären es keine 20 Jahre geworden!
Kultur- und Schankwirtschaft »Baiz«, täglich geöffnet, Schönhauser Allee 26A, Berlin
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