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»Gefängnisse sind bis heute Armenhäuser«
Klaus Jünschke engagiert sich in Köln gegen Wohnungslosigkeit und für die Abschaffung von Zwangsanstalten
Sie haben sich kürzlich in Berlin an einem Gespräch zum Thema Abolitionismus beteiligt. Warum engagieren Sie sich für die Abschaffung des Gefängnissystems?
Da kann ich auf eine lange Tradition der bürgerlichen Kritik an Gefängnissen und Strafvollzug verweisen. Bereits vor mehr als 100 Jahren erkannte der preußische Rechtswissenschaftler Franz von Liszt, dass in den Gefängnissen die Armen praktisch unter sich sind. Die Gefängnisse sind bis heute Armenhäuser geblieben.
Welche Schlussfolgerung ziehen Sie daraus?
Franz von Liszt erklärte, dass die beste Kriminalpolitik in einer guten Sozialpolitik besteht. In den Ländern, in denen der Sozialabbau nicht so drastisch war wie in den USA, gibt es die wenigsten Gefangenen. Armut wird aber auch da nur verwaltet, nicht abgeschafft. Hinzu kommt die Geschlechterblindheit. 94 Prozent aller Gefängnisinsassen sind Männer. Erst seit den letzten Jahren befassen sich Kriminolog*innen damit.
Klaus Jünschke wurde 1947 in Mannheim geboren. Über das Sozialistische Patientenkollektiv kam er zur Roten Armee Fraktion. Nach einem 16jährigen Gefängnisaufenthalt engagierte sich Jünschke gegen Rassismus und Wohnungslosigkeit sowie für die Abschaffung von Gefängnissen und anderen Zwangsanstalten.
Warum spielten Genderaspekte bisher kaum eine Rolle in der Diskussion?
Der Zusammenhang von Männlichkeit und Kriminalität ist generell ein blinder Fleck im öffentlichen Bewusstsein. Schließlich sind auch in den Spitzen von Wirtschaft und Finanzen die Männer nahezu unter sich, genauso wie in den Gefängnissen. Die Überwindung der sozialen Ungleichheit und der patriarchalen Ordnung sind als Forderungen in der Gesellschaft noch nicht angekommen. Hier muss man ansetzen, statt immer mehr Gefängnisse zu fordern. Karl Marx und Friedrich Engels haben das lange vor Franz von Liszt klarer gesehen. In »Die Heilige Familie« schrieben sie 1845, man müsse »nicht das Verbrechen am Einzelnen strafen, sondern die antisozialen Geburtsstätten des Verbrechens zerstören und jedem den sozialen Raum für seine wesentliche Lebensäußerung geben. Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muss man die Umstände menschlich bilden.« Davon lasse ich mich in meinem Engagement für die Abschaffung der Gefängnisse leiten.
Wie kam es zu Ihrem Engagement für die Rechte der Wohnungslosen in Köln?
Nachdem meine Frau Christiane Ensslin am 20. Januar 2019 gestorben war, lebte ich über ein Jahr nur in der Vergangenheit. Durch das Engagement für die Rechte der Obdachlosen habe ich aus der Trauerphase herausgefunden. Im März 2020 besuchte ich in Köln eine Gerichtsverhandlung gegen Rainer Kippe von der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim. Er war wegen Hausfriedensbruchs angeklagt, weil er mit obdachlosen Frauen leerstehende Häuser besetzt hatte. Der Titel seiner Verteidigungsschrift lautete: »Warum wir die Pflicht hatten, leerstehende städtische Häuser zu besetzen, um notleidende obdachlose Frauen unterzubringen«. Die Hausbesetzung und die offensive Verteidigung fand ich gut, und das hat mich veranlasst da mitzuarbeiten.
Was hatten Sie davor gemacht?
Nach meiner Entlassung habe ich fast 30 Jahre beim Verein Kölner Appell mitgearbeitet. Ich war aber nicht an dessen Gründung beteiligt. Er entstand 1983 in Anlehnung an den Krefelder Appell der Friedensbewegung aus einer bundesweiten Unterschriftensammlung gegen die rassistische Politik der damaligen Bundesregierung. Kanzler Kohl forderte, die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik zu halbieren. Damit es nicht bei der Unterschriftenaktion blieb, wurde zunächst ein Komitee und 1987 der Verein Kölner Appell gegründet.
Warum haben Sie die Arbeit dort beendet?
Als meine Frau pflegebedürftig wurde, habe ich 2018 alle Aktivitäten eingestellt. Der Verein hat sich entpolitisiert, wie viele Initiativen gegen Rassismus. Sie hängen am Tropf der städtischen und staatlichen Förderungen, sind konfliktscheu geworden und tun so, als könnte alles pädagogisch bewältigt werden. Der Einsatz für die Diversität ist an die Stelle des Kampfes für die Gleichheit getreten, statt ihn zu ergänzen.
Was motiviert Sie bei Ihrer Arbeit gegen Wohnungslosigkeit?
Durch »Deutsche Wohnen und Co enteignen« ist die Vergesellschaftung der Konzerne wieder ein Thema. Unsere Kundgebungen wie unsere Hausbesetzungen wurden überwiegend mit Sympathie aufgenommen. Wir bekamen Hinweise auf leerstehende Häuser und Airbnb-Wohnungen. Durch unsere konkrete Solidarität mit den Bewohner*innen der Siedlung Egonstraße und den 40 Obdachlosen, die in der Marktstraße ein leerstehendes Bürogebäude besetzt haben, haben wir deutlich gemacht, dass es sich bei den offiziellen Parolen »Gemeinsam sind wir Köln« um Propaganda handelt. Die Thematisierung der Wohnungsnot und der dafür verantwortlichen profitorientierten Immobilienwirtschaft macht den Klassencharakter der Stadt bewusst.
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Welche Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie auf Ihr Engagement?
In der Pandamie sollten alle zu Hause bleiben. Doch wo sollten die Menschen hin, die keine Wohnung hatten? Diese Frage griffen wir vom 23. Juli bis zum 11. September 2020 mit einer Mahnwache gegen Wohnungsnot auf. Auf dem Alten Markt in Köln, direkt vor dem Eingang des Rathauses, haben wir einen Tisch und Stühle unter einem offenen Pavillon aufgebaut. Von 10 Uhr früh bis nachmittags um 17 Uhr informierten wir über fehlende bezahlbare Wohnungen, den fehlenden öffentlichen Wohnungsbau, über Obdachlosigkeit. Ich habe mich täglich an der Mahnwache beteiligt und meine Erfahrungen in dem Buch »Ratschläge gegen Wohnungsnot und Stadtzerstörung in Köln« veröffentlicht.
Woher nehmen Sie die Kraft für Ihr jahrzehntelanges Engagement?
Das kommt aus dem gesellschaftlichen Aufbruch der späten 60er Jahre. Ich habe 1968 angefangen, Psychologie zu studieren, und kam über die Basisgruppe Politische Psychologie, die ich mit anderen im Sozialistischen Studentenbund (SDS) gegründet hatte, in Kontakt mit dem Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK). Dadurch haben wir uns mit der Abschaffung der Psychiatrie beschäftigt. Ich war dann als Mitglied der RAF 16 Jahre im Gefängnis und hatte viel Zeit, mich mit dem Gefängnissystem auseinanderzusetzen. Ich habe die Schriften von kritischen Kriminolog*innen wie Sebastian Scheerer, Helga Cremer-Schäfer, Gerlinda Smaus, Heinz Steinert und Fritz Sack kennengelernt, die für meine Auseinandersetzung mit Gefängnissen und anderen Zwangssystemen bis heute sehr wichtig sind.
Konnten Sie Ihr Studium im Gefängnis fortsetzen?
Ich absolvierte in den letzten Haftjahren ein Fernstudium der Erziehungs- und Sozialwissenschaften. Nach der Entlassung habe ich mit der Examensarbeit über »Rassismus und Erwachsenenbildung« das Studium beendet. In den Jahren beim Kölner Appell habe ich mich mit der Überrepräsentation von Migranten in den Gefängnissen befasst. 2008 war ich in London beim International Congress on Penal Abolition und habe Menschen aus allen Kontinenten getroffen, die für die Abschaffung der Gefängnisse eintraten. Ich war dort der einzige Teilnehmer aus Deutschland.
Nach der Verhaftung von Daniela Klette wurde die RAF wieder zum Thema. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Ich habe eine Presseerklärung herausgegeben, in der ich mich gegen die Isolationshaft gewandt und die Freilassung von Daniela Kette gefordert habe. Ich war sieben Jahre unter Isolationsbedingungen inhaftiert, im Justizjargon hieß das »strenge Einzelhaft«. Ich bin überzeugt, dass es ohne diese Isolationshaft die zweite und dritte Generation der RAF gar nicht gegeben hätte. Mir ist es ein Anliegen, dass man sich in Deutschland endlich mit der Zeit der Isolationshaft auseinandersetzt. Das geschieht leider bis heute nicht.
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