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- »Sterbenswörtchen«
Thema Tod: Brechts Augsburger Überbleibsel
Petra Moser und Martin Jürgens denken zusammen mit anderen in ihrem Band »Sterbenswörtchen«über unseren Umgang mit dem Tod nach
Dass dem modernen Menschen der Tod fremd geworden ist, ist eine derart breitgetretene Binse, man muss schon von einem Teppich sprechen. Gleichzeitig ist es wahr, dass immer nur die anderen sterben, und sie dies aber auch vor allem anderswo tun: in Heimen und auf Intensivstationen. So viel in Filmen und Serien ständig dahingeschieden wird, so wenig beeinflusst es den Alltag der heutigen Zeit.
Aus einer ähnlichen Überlegung heraus haben Petra Moser und Martin Jürgens nun 17 Texte zu Tod und Sterben in dem Band »Sterbenswörtchen« versammelt. Es ist ein breites Spektrum an Textsorten geworden: Essay, Gedichte, Erzählungen und ein Brief. Um es vorwegzunehmen: Über den eigenen Tod lernt man in diesem Buch wenig; das ist vielleicht auch gar nicht möglich. Denn, wie es im Nachwort heißt, »solange wir im Denken begriffen sind, ist unsere Abwesenheit für uns undenkbar«. Der eigene Tod ist nicht zu begreifen, nicht einmal zu greifen.
Was aber möglich ist: über den Tod zu sprechen, um sich mit ihm anzufreunden. In mehr als einem Text wird Montaignes Aphorismus zitiert, dass Philosophieren Sterben lernen bedeute. Jochen Schimmang macht in seinem kurzen Abriss einer Geistesgeschichte des Redens über den Tod klar, warum dieses Lernen aber nie zu einem Abschluss kommen kann: Trauer sei ein Prozess, der jenseits der Sprache liege, im günstigsten Fall an seiner äußersten Grenze. »Die Sprache der Trauer«, sagt Schimmang mit Barthes, münde »zwangsläufig in die Banalität«.
Was möglich ist: über den Todzu sprechen, um sich mit ihm anzufreunden.
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Das Buch selbst widerlegt diese These oder macht zumindest eine wichtige Einschränkung: für Prosa und serielle Texte wie Nachrufe mag Schimmangs These durchaus gelten, die Lyrik aber hat genug Instrumente, sich dieser Banalität zu entziehen. Barbara Zoekes Gedichte in dem Band beweisen es: Ihre stark reduzierten Texte lassen sich in vielen Tonlagen lesen und überlassen so die Nuancen den Lesenden. Unmöglich zu sagen, ob hier Melancholie vorherrscht oder Wut oder bittere Verzweiflung oder ob es ein kaltes Konstatieren ist.
Was das Buch bei all seiner literarischen Vielfalt zusammenhält, ist eine gewisse Innerlichkeit, die höchstens am Rande nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen fragt. Eine Analyse des Todes oder eine Theorie des Sterbens (in pandemischen Zeiten etwa) findet man hier nicht. Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen erwähnt werden, dann kommen sie als (mögliches oder tatsächliches) Schicksal. In Hermann Kinders nachgelassenem Text (vermutlich das Letzte, an dem er arbeitete) heißt es etwa: »Sterben ja, Tod auch, aber auf der Intensivstation bewusstlos hin- und hergewendet werden wie eine Meterbratwurst, damit der Dekubitus sich in Grenzen halte; auf dem Bauch liegend nur noch mit Hilfe von Atempumpen Luft zu bekommen? Unappetitlich sagte er.«
Den letzten Teil des Buches bilden Abschweifungen in Literatur- und Kunstgeschichte, die in diesem Band besonders originell ausfallen. Dass fremde Tode auch höchst vergnüglich sein können, beweist Erdmut Wirzilsa: »Luftdicht verschlossen« soll nämlich der Sarg sein, in dem Bertolt Brecht bestattet werden will, am besten aus Stahl. Helene Weigel gelang es dann tatsächlich, einen Berliner Betrieb zu finden, der in einer Nachtschicht einen solchen Stahlsarg zusammenlötete – ein Vorgang, der nicht nur mehrere Dutzend Ingenieure und Arbeiter*innen beschäftigte, sondern vermutlich auch auf höchster Ebene politisch abgesegnet werden musste. Anschließend wurde jener Sarg wohl in einen Holzsarg hineingepackt, der dann in die Erde gelassen wurde. Davor aber musste ein Pathologe, der auch den Tod festzustellen hatte, noch die linke Oberschenkelarterie öffnen – Brecht hatte panisch Angst davor, lebend begraben zu werden.
Aber warum der ganze Aufriss? Käthe Rülicke, eine Mitarbeiterin Brechts, sagte dazu nur: »Ich weiß nicht, was das für Vorstellungen waren, merkwürdige Augsburger Überbleibsel, finde ich, wie der Brecht ja überhaupt so ganz merkwürdige Augsburger Sachen noch hatte.«
Sehr interessant sind auch Patrick Eiden-Offes Ausführungen zu der Frage, warum die Dänen so schön sterben. Eiden-Offe nutzt seine – steile – These, um eine kurzweilige, nichtsdestotrotz detailreiche dänische Literaturgeschichte von Jens Peter Jacobsen bis Tania Blixen zu schreiben. Warum darin gerade die schönen Tode eine so große Rolle spielen, erklärt Eiden-Offe damit, dass in dieser Epoche dänischer Literatur die Figuren Geduld genug haben, um ihren eigenen Tod zu sterben; eine Eigenschaft, die (wie Rilke konstatiert), schon damals gegen den Zeitgeist stand: »Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener.«
Petra Moser und Martin Jürgens greifen im Nachwort mit Walter Benjamin diesen Gedanken wieder auf: »Sterben wird im Verlauf der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter herausgedrängt. Ehemals kein Haus, kaum ein Zimmer, in dem nicht schon einmal jemand gestorben war. (…) Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien oder in Krankenhäusern verstaut.« Ein Trend, der sich seit 2020 noch einmal deutlich verstärkt hat.
Moser und Jürgens merken an, dass ihnen die Idee zu diesem Band während der Pandemie kam, in der Sterben und Tod wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein drangen. Einen interessanten Punkt lässt das Buch allerdings aus: Wie kam es, dass so schnell die neue Kategorie der »Vulnerablen« etabliert wurde, damit man sich die eigene Gefährdung vom Leib erzählen konnte? Wie kam es, dass die deutsche Medizin aus ihrer Geschichte nicht gelernt hat, dass ihre Aufgabe wäre, sich schützend vor jedes Leben zu stellen? Stattdessen sagte Klaus Stöhr, Mitglied im Corona-Sachverständigenausschuss: »Letztlich betrifft eine Atemwegspandemie wie Corona hauptsächlich die Vulnerablen – also diejenigen, die näher am Ende stehen als andere.«
Populisten wie Stöhr befeuern den Eindruck, dass immer nur die anderen sterben; und ganz in der Tradition der deutschen Medizin sind jene anderen dann solche, die man überhaupt erst zu anderen gemacht hat, indem man sie zu Risikogruppen deklarierte. Sich dem entgegenzustellen heißt, einen humanistischen Standpunkt einzunehmen, wie ihn Elias Canetti vertrat, als er forderte: »Jeden Tod hassen, als wäre es der eigene.«
Von einer solchen Radikalität sind die Texte in »Sterbenswörtchen« in ihrer Vielheit ein Stück entfernt, aber sie ermöglichen es, sich dem Thema Tod und Sterben anzunähern: Sie tun dies ohne Dogmatismus oder missionarischen Eifer, ohne Zeigefinger, aber mit ausgestreckter Hand.
Petra Moser/Martin Jürgens (Hg.): »Sterbenswörtchen«. Versuche über das Ableben: Essays, Lyrik, Prosa und ein Brief. Neofelis, 202 S., br., 19 €.
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