Alles brodelt, alles steht infrage

Das Musikfest Berlin eröffnete mit mehreren Amerikas

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 6 Min.
Für Edgar Varèse, hier von Robert W. Chandler zeitgenössisch porträtiert, gab es mehrere Amerikas – das ist auch das Motto des Berliner Musikfests.
Für Edgar Varèse, hier von Robert W. Chandler zeitgenössisch porträtiert, gab es mehrere Amerikas – das ist auch das Motto des Berliner Musikfests.

Amerika? »I’m so tired of you America«, singt Rufus Wainwright in seinem Song »Going To A Town« und erklärt in einem Hintergrundbericht zum dazu entstandenen Video, er finde, dass Amerika »schön, aber dornig« sei. In der Trump-Ära bekam dieser bereits 2007 entstandene und 2011 auch von George Michael gecoverte Song eine zusätzlich bittere Note.

Amerika ist das Motto, mit dem das Musikfest Berlin unter Intendant Winrich Hopp für eine Erweiterung des Kanons der Musik des 20. Jahrhunderts plädiert: Nämlich dafür, verstärkt Werke der Amerikas zu präsentieren, also von Komponist*innen wie John Adams, Heitor Villa-Lobos, Alberto Ginastera, Ruth Crawford-Seeger und vor allem von Charles Ives, der nicht nur einige der radikalsten Musiken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts komponiert hat, sondern sich auch als Förderer, ja geradezu als Mäzen der panamerikanischen Moderne verdient gemacht hat.

Doch es geht beim Musikfest 2024 nicht nur darum, das Publikum auf amerikanische Musik aufmerksam zu machen. Es wurden auch explizit amerikanische Orchester eingeladen: nicht nur solche aus Nord-, sondern auch aus Südamerika, und nicht nur solche wie die renommierten »großen Fünf« der USA, sondern auch die Kansas City Symphony. Vielfalt ist Programm!

Und so gestaltete das São Paulo Symphony Orchestra am vergangenen Samstag unter seinem Schweizer Chefdirigenten Thierry Fischer das letztlich begeisternde Eröffnungskonzert. Die kleine Einschränkung gilt dem leider etwas vage gespielten Auftakt, »Central Park in the Dark« von Charles Ives aus den Jahren 1906 bis 1909, überarbeitet 1936 und erst 1946 in New York uraufgeführt. Sicher, die in verwegenen Quarten um sich selbst kreisenden Streicher »verkörpern die nächtlichen Geräusche und das Schweigen der Dunkelheit«, wie der Komponist feststellte. Und das übrige Orchester unterbricht sie mit verschiedensten Geräuschen: Wir hören Straßensänger und Nachtschwärmer, die bruchstückhaft Radiohits ihrer Zeit anstimmen oder »den Marsch der Erstsemester von Yale pfeifen«, Klänge »von der gelegentlich vorbeifahrenden Hochbahn«, Ragtime-Sounds aus den Wohnungen, eine Straßenkapelle, eine Feuerspritze; plötzlich kulminiert alles in einer rasanten und geradezu entgleisenden Steigerung, um dann sofort zu verschwinden, wieder ist die Dunkelheit zu hören, »ein Echo, das über den Teich klingt … und dann gehen wir nach Hause«.

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All diese Klänge – und zwar »Klänge der Natur und der Ereignisse, die man früher hören konnte (bevor Auto und Radio den Erdboden und die Luft beherrschten)« – hat Ives collagiert, jedoch nicht wie sein Zeitgenosse Mahler mit einer Art von Samples auskomponiert, sondern eher neben- und übereinandermontiert. Durch diese Montage entsteht ein Sog der Dunkelheit – der aber durchaus auch leuchten darf, was man in der etwas unentschlossenen und unentschiedenen Interpretation des Orchesters aus São Paulo leider nicht erleben konnte.

Ganz anders dann beim Violinkonzert op. 30 des argentinischen Komponisten Alberto Ginastera, ein Auftragswerk der New York Philharmonic und von diesem Orchester 1963 unter Leonard Bernstein mit Ruggiero Ricci als Solist auch uraufgeführt. Der 1981 im ukrainischen Lwiw geborene Geiger Roman Simovic, der für die ursprünglich angekündigte Hilary Hahn den Solo-Part spielt, geht die ausufernde, mehr als fünfminütige Solo-Kadenz, mit der das Werk beginnt, kraftvoll und mit gelegentlich brutalistischem Ton an. Es ist ein Dialog mit sich selbst; immer wieder sind zärtliche Sequenzen eingebaut, ehe Solist und Orchester dieses Material dann in sechs »Studien« gemeinsam bearbeiten.

Wunderbar der expressive und an Bartók erinnernde 2. Satz, ein Adagio für 22 Solisten, bei dem es kein Solo und keine Tutti mehr gibt, sondern alle sozusagen kameradschaftlich gemeinsam musizieren. Im letzten Satz ein zerfleddertes Scherzo, das mit wispernden, kaum hörbaren Tönen des Solisten beginnt, dann Themen aus Paganinis 24. Caprice zitiert und von einem kurzen Perpetuum mobile beendet wird, in dem der Solist sich gegen aggressive Angriffe des Schlagwerks behaupten muss.

Ginasteras kühnem Violinkonzert merkt man an, dass der Komponist sich in seiner von ihm selbst als »neoexpressionistisch« bezeichneten Spätphase intensiv mit Surrealismus, Serialismus, Mikrotonalität und aleatorischer Musik befasst hat. Ein schwieriges Werk, nicht nur extrem anspruchsvoll für den Solisten, sondern auch für die Zuhörenden. Roman Simovic hat es großartig bewältigt, und der aufbrausende Applaus des Publikums scheint auch Verständnis für das Werk zu bedeuten, das man auf jeden Fall gern öfter in Konzerten hören würde. Simovic spielte eine Ysaÿe-Sonate als Zugabe, packend, wild und emotional.

Das Beste kommt bei diesem langen Konzert zum Schluss: Edgar Varèses »Amériques«, 1918 bis 1922 komponiert. Im Programmheft ist zu lesen, dass dessen Uraufführung 1926 durch Leopold Stokowski ein »Erfolg« gewesen sei, der den Komponisten »beflügelt« habe. Nun, das Gegenteil dürfte der Fall gewesen sein: Die »New York Times« bezeichnete »Amériques« als »durch und durch falsch« und erklärte es zum »Skandalstück«, was sich das Publikum nicht zweimal sagen ließ und bei der New Yorker Erstaufführung zischte, gestikulierte, pfiff und brüllte, was das Zeug hielt. So wurde »Amériques« zum Skandalstück wie 13 Jahre zuvor Strawinskis »Le Sacre du Printemps« in Paris. Varèses nächstes Werk, »Arcana« wurde dann von einem Kritiker gar als »Tonferkelei« bezeichnet.

Edgard Varèse, für Frank Zappa »das Idol meiner Jugend«, war dem Bürgertum nicht nur als Komponist, sondern erst recht als Klassengegner verhasst. Varèse kannte Lenin und Trotzki gut, er war Dirigent kommunistischer Arbeiterchöre, und während des Spanischen Bürgerkrieges sammelte er Geld für die Verteidiger der Republik, die gegen die mit Nazideutschland verbündeten Franquisten kämpften.

Varèse hatte 1919 das New York Symphony Orchestra gegründet, das auf kooperativer Basis zum Zweck der Verbreitung neuer Musik arbeitete, nicht zuletzt angesichts der »umfassenden Krise des Interpreten als gesellschaftlich verantwortlichem Wesen« (Konrad Boehmer); selbstverständlich hatte jeder Musiker Anteil am Gewinn des Projekts.

Man tut gut daran, einen Komponisten wie Varèse nicht nur als musikalischen Revolutionär zu begreifen. Und das Schönste ist vielleicht: Varèses Musik ist für die Zwecke der Kulturindustrie komplett unbrauchbar. Denn »Amériques« ist eine totale Grenzüberschreitung. Alles brodelt, alles wird infrage gestellt. Während des gesamten Stückes ist eine Sirene zu hören, kein Wunder, das São Paulo Symphony Orchestra setzt die Berliner Philharmonie in Feuer.

Das monumentale Orchester – allein neun Spieler*innen sind für das sich rastlos austobende Schlagwerk nötig, zu dessen Instrumenten auch eine Große Trommel mit Drahtbürste, Peitschen und ja: »Löwengebrüll« gehören! – tobt sich an verwirrenden Sounds, Signalen und Motiven aus, und es entsteht ein elektrisierender großer Krach, der sich 25 Minuten fortwährend steigert, abschwillt, um danach wie eine tosende Tsunami-Klangwelle noch lauter und überbordender zurückzukehren, bis hin zu einer allerletzten, unwirklich dröhnenden Klanggewalts-Apotheose, die die Zuhörer*innen und alle und alles mitreißt. Jubelstürme.

Das Sinfonieorchester aus São Paulo und sein hervorragender Dirigent Thierry Fischer waren bereits zuvor bei »Uirapurú« von Heitor Villa-Lobos ganz bei sich, aber nach ihrer Interpretation von Varèses Solitär wünscht man sich, sie bald wieder in Berlin zu hören.

Amerika? Amériques!

Das Konzert des São Paulo Symphony Orchestra kann ab dem 30.8. bis zum 29.9. in der Mediathek des Musikfests Berlin nachgehört werden.

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