Wohnungslosigkeit: »Das Leben auf der Straße ist teuer«

Ilse Kramer von der Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen setzt den Wohnkampf auf die Tagesordnung

Obdachlosigkeit ist manchmal sichtbar, Wohnungslosigkeit dagegen selten. In der Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen setzen sich Betroffene für die Wahrnehmung ihrer Probleme ein.
Obdachlosigkeit ist manchmal sichtbar, Wohnungslosigkeit dagegen selten. In der Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen setzen sich Betroffene für die Wahrnehmung ihrer Probleme ein.

Die Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen gibt es seit 2019. Ihr großes Vorhaben war die Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen. Am Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit des SPD-geführten Wohnministeriums haben Sie mitgearbeitet. Haben Sie Ihr Ziel also erreicht?

Damals wurde die Selbstvertretung angesprochen, ob sie mitarbeiten möchte. Prinzipiell war das ein Erfolg. Wir haben gemerkt, dass wir wahrgenommen wurden, das war wichtig. Bei den Vorbereitungsgesprächen des Aktionsplans waren viele verschiedene Menschen anwesend, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben, eben auch Obdachlose und Wohnungslose. Auch ich war bei einem Gespräch dabei. Unser großes Ziel haben wir damit aber nicht erreicht. Dazu müsste es von heute auf morgen keine Wohnungslosen und keine leer stehenden Wohnungen mehr geben.

Prinzipiell ist im Aktionsplan das Ziel verankert, Wohnungslosigkeit bis 2030 abzuschaffen …

Ja, der Aktionsplan ist eine gute Sache. Aber ich sehe nicht, wie das in sechs Jahren passieren soll. Das Thema Wohnen hat nun einmal keine Priorität. Manche Leute merken inzwischen schon, dass es mit dem preiswerten Wohnen zu Ende geht. Auch wenn ich mich mit Menschen über meine politische Arbeit unterhalte, erzählen fast alle von Erfahrungen mit Wohnungslosigkeit im eigenen Umfeld. Aber ich sage immer: Erst kommt der Fußball, dann das Boxen und dann noch ein paar andere Sachen, und erst dann fällt den Leuten irgendwann das Thema Wohnen und Obdachlosigkeit ein. Deswegen finde ich es wichtig, dass sich Menschen selbst für ihre Rechte einsetzen.

Interview

Ilse Kramer ist »noch 68« Jahre alt. 2019 war sie Gründungsmitglied der deutsch­landweiten Vernetzung »Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen«, bis vergan­ge­nen Monat Koordinatorin der Gruppe Region Mitte in Köln. Sie hatte selbst 15 Monate lang keine Wohnung und ist überzeugt: Wohnungslosigkeit tritt schneller ein, als man denkt.

Was ist der Unterschied zwischen Wohnungs- und Obdachlosigkeit?

Der Obdachlose lebt auf der Straße. Der Wohnungslose hat keinen festen Wohnsitz, aber noch die Möglichkeit, irgendwo zu übernachten. Bei der Selbstvertretung machen wir da keinen Unterschied. Es passiert schnell, von Wohnungslosigkeit in Obdachlosigkeit zu wechseln, dazwischen liegen oft nur ein paar Wochen. Und Wohnungs- und Obdachlose werden auf ähnliche Weise ausgegrenzt.

Zu diversen Ausgrenzungsmechanismen, die durch Wohnungslosigkeit entstehen, hat die Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen Positionspapiere geschrieben. Darin geht es unter anderem um das Recht auf Wohnung, digitale Teilhabe oder den Schutz der Gesundheit ...

Ja, bei der Teilhabe geht es darum, dass man ohne Digitales inzwischen nicht einmal mehr einen Termin beim Jobcenter bekommt. Gesundheit ist für Wohnungslose wiederum ein ganz eigenes Problem. Manche Menschen waren seit Jahren nicht bei einem Arzt – sie schämen sich und trauen sich gar nicht mehr, einen aufzusuchen.

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Und Sie meinen, bei diesen Themen würde eine »menschenwürdige Unterkunft« einen Unterschied machen?

Ja. Eine Unterkunft macht viel mit dem Selbstwert, mit dem Sicherheitsgefühl und ändert auch für bürokratische Vorgänge einiges. Ich habe mich zum Beispiel an unserem Papier für den »Mehrbedarf« beteiligt. Dabei ging es darum, dass das Leben teuer ist, wenn man auf der Straße lebt. Bis Hartz IV eingeführt wurde, gab es in Deutschland in den großen Städten eine besondere Sozialhilfe, an die sich kranke Menschen, jene mit wenig Geld oder Rentner wenden konnten. Sie haben dann 20 Prozent Mehrbedarf bekommen. (Schwangere, Alleinerziehende, Menschen mit Behinderung oder jene, die aus medizinischen Gründen eine besondere Ernährung brauchen, haben auch bei Hartz IV und Bürgergeld Anrecht auf Mehrbedarf. Der Mehrbedarf liegt zwischen 12 und 60 Prozent des Regelsatzes, Anm. d. Red.) Eine meiner Ideen wäre gewesen, das wieder aufleben zu lassen. Aber ich denke, da werde ich bei den Politikern in diesem Land gegen verschlossene Türen rennen.

Das hat sich Ihrer Wahrnehmung nach auch mit der Einführung des Bürgergeldes nicht geändert?

Nein. Die Sozialhilfe unterscheidet zwischen Lebensunterhalt und Kosten der Unterkunft. Wenn Menschen keinen festen Wohnsitz haben, bekommen sie auch keine Unterkunftskosten bezahlt. Sie haben aber andere Mehrkosten als Menschen mit Unterkunft. Ein Mensch muss ungefähr sechs- oder siebenmal am Tag auf die Toilette. Dafür musst du als wohnungslose Person bezahlen. Im Kaufhaus 50 Cent, bei der öffentlichen Toilette einen Euro. Das Gleiche gilt fürs Duschen oder Wäschewaschen. Eine wohnungslose Person muss zweimal die Woche in den Waschsalon, das kostet auch wieder 16 Euro. Wenn wir in den Wohnungen merken, dass das Leben teurer wird, wird es auf der Straße bedeutend teurer. Deswegen fordern wir einen pauschalen Zuschlag von 70 Prozent als Unterkunftsbeitrag für Menschen ohne festen Wohnsitz.

Welche anderen Schwerpunkte wird die Selbstvertretung künftig setzen?

Wohnen und Gerechtigkeit bleiben unsere Themen, die Schwerpunkte können sich aber jederzeit ändern. Aktuell sind wir um die 80 Personen aus ganz Deutschland. Bei uns ist niemand der Chef, jede neue Person bringt neue Themen ein. In neuen Städten werden selten Einzelpersonen Teil der Selbstvertretung, meistens schließen sich in jeder Stadt schnell Gruppen zusammen. Ich glaube, alleine hat diese Arbeit keinen Sinn. Wir waren auch schon international vernetzt, nach Irland, Dänemark und Ungarn, das ist aber durch Corona eingeschlafen. Das wieder aufleben zu lassen, wäre spannend.

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