Bestrafungsaktion im Westjordanland

Die israelische Armee setzt ihre Razzia gegen palästinensische Widerstandskämpfer fort

Laufende Militäroperation in Dschenin im besetzten Westjordanland.: Ein palästinensischer Jugendlicher hebt sein T-Shirt hoch, um den israelischen Truppen zu zeigen, dass er unbewaffnet ist.
Laufende Militäroperation in Dschenin im besetzten Westjordanland.: Ein palästinensischer Jugendlicher hebt sein T-Shirt hoch, um den israelischen Truppen zu zeigen, dass er unbewaffnet ist.

Die israelische Armee hat am Donnerstag ihren Militäreinsatz im Westjordanland fortgesetzt. In der Stadt Tulkarem sind nach Armeeangaben weitere fünf bewaffnete Palästinenser getötet worden. Die Männer hätten sich in einer Moschee verschanzt. Es sei zu einem Feuergefecht mit Soldaten gekommen, teilte das Militär mit. Einer der Getöteten, Mohammad Dschaber, sei ranghoher Anführer eines Terrornetzwerks in dem örtlichen Flüchtlingsviertel gewesen. Dschaber wurde vorgeworfen, an mehreren Anschlägen beteiligt gewesen zu sein.

Als Reaktion auf die israelischen Angriffe hat der hochrangige Hamas-Funktionär Khaled Maschal am Mittwochabend auf einer Konferenz in Istanbul zu einer erneuten Welle von Selbstmordattentaten gegen die israelische Armee im Westjordanland aufgerufen, berichtete der arabische Sender Sky News Arabia.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Größter Militäreinsatz seit 2002

Die israelische Militäroffensive im Westjordanland gilt als größter Einsatz dieser Art seit 2002. Unter dem Titel »Verteidigungsschild« haben verschiedene Einheiten die Flüchtlingslager der Städte Dschenin, Tulkarem und Tubas gestürmt. In den seit 1948 bestehenden Lagern leben aus dem heutigen Israel vertriebene Palästinenser dritter oder vierter Generation. Die hohe Arbeitslosigkeit und soziale Probleme in den Lagern haben radikale Gruppen dazu genutzt, Jugendliche für den bewaffneten Widerstand gegen die Besatzung anzuwerben. Bei den regelmäßigen Razzien in den Camps durch die israelische Armee kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen.

Doch nun wurden Dschenin, Tubas und das Flüchtlingslager Al-Farah in Tulkarem abgeriegelt. Den Bewohnern von Al-Farah wurde drei Stunden Zeit gegeben, die Gegend zu verlassen. Danach durchsuchten Spezialeinheiten die Häuser nach Waffen. Die Zahl der seit Mittwoch Getöteten steigt auf 18, wie die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa am Donnerstag berichtete: acht im Gouvernement Dschenin, sechs in Tulkarem und vier in Tubas. Seit dem 7. Oktober starben im Westjordanland über 350 Menschen bei Scharmützeln, Angriffen von Siedlern oder Razzien.

Palästinensische Polizei zog sich zurück

Die Flüchtlingslager liegen im Hoheitsbereich der palästinensischen Autonomiebehörde. Dort versuchen militante Gruppen wie die Hamas und der Islamische Dschihad die im Westjordanland tonangebenden Sicherheitskräfte von Präsident Mahmud Abbas zu verdrängen. Dessen Polizei steht wegen ihrer Kooperation mit israelischen Behörden in der Kritik und zog sich vor der anrückenden israelischen Armee zurück.

Zahlreiche palästinensische Journalisten und Rettungskräfte des Roten Halbmonds aus Ramallah versuchen derzeit in die abgeriegelten Gebiete zu gelangen. Da die Hauptstraßen nach Norden von der israelischen Armee abgeriegelt wurden, sind Dschenin und Tulkarem nur über Schleichwege zu erreichen. Die Telefonleitungen nach Dschenin wurden gekappt, die Zufahrts- und Hauptstraßen der Flüchtlingslager mit schweren Bulldozern aufgerissen.

»Das ist ein Krieg, und wir sollten in den Terrorhochburgen ähnlich wie in Gaza vorgehen.«

Jitzchak Herzog Präsident Israels

Auf palästinensischen TV-Kanälen wird das Anrücken der Konvois gepanzerter Fahrzeuge der israelischen Armee live gezeigt. Die Soldaten dringen auf der Suche nach bewaffneten Widerstandskämpfern auch in Nablus und anderen Orten in Häuser ein. Über ihnen schweben Drohnen, berichtet Nasr Abubakr von der Gewerkschaft der Journalisten in Ramallah. »Ich fordere die israelische Armee auf, meine Kollegen frei berichten zu lassen und nicht wie in der Vergangenheit ins Visier zu nehmen. Durch die Drohnen wissen die Soldaten genau, auf wen sie zielen.« Bei Armeerazzien wurden immer wieder palästinensische Journalisten verletzt oder getötet.

»Krieg der Narrative«

»Dies ist ein Krieg der Narrative«, sagt Abubakr, »aus unserer Sicht sind die Gründe für solche Aktionen vorgeschoben, es geht nur um Einschüchterung der Bevölkerung, bei der die Empörung über die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza stetig wächst.«

Die israelische Regierung beschreibt die Aktion als Teil des Konflikts mit dem Iran. Man habe Information erhalten, dass der Iran Waffen in das Gebiet geschmuggelt habe, so Präsident Jitzchak Herzog. In einer Fernsehansprache rechtfertigte er das harte Vorgehen: »Das ist ein Krieg, und wir sollten in den Terrorhochburgen ähnlich wie in Gaza vorgehen.«

Bestrafungsaktion erinnert an zweite Intifada

Ein weiterer Grund für die Militäraktion soll ein gescheiterter Selbstmordanschlag sein: Am 18. August hatte ein aus Nablus stammender Palästinenser in Tel Aviv einen Sprengsatz gezündet, der mehrere Passanten leicht verletzte. Die Polizei in Tel Aviv nimmt an, dass die Terrortat in Tulkarem vorbereitet wurde. Die israelische Armee bestraft grundsätzlich nicht nur die Täter oder die Hintermänner von Anschlägen, auch die Häuser ihrer Familien werden zerstört, manchmal ganze Nachbarschaften.

Die aktuelle Bestrafungsaktion der Armee ruft Erinnerungen an die zweite Intifada von 2002 wach. Auch damals wurden Flüchtlingslager belagert, um den bewaffneten Widerstand zu stoppen. Doch aus einer auf Wochen geplanten Offensive wurden Jahre. Bis 2005 starben mindestens 4412 Palästinenser, 48 000 wurden verletzt. 1069 Israelis kamen bei der von Hamas und Islamischem Dschihad gestarteten Anschlagswelle ums Leben.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.