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Peter Kerns »Dorfansicht mit Nazis«: Arisierte Provinzidylle
Peter Kerns autobiografische Gesellschaftsanalysen gelingt eine bemerkenswerte Reflexion über jüdische Geschichte und linke Verantwortung
In den letzten Jahren ließ sich eine Vielzahl gesellschaftlicher Reflexionen beobachten, die von den eigenen Erfahrungen ausgingen. Die meisten dieser Bücher wurden von Autor*innen verfasst, die durch ihr Studium gesellschaftlich aufgestiegen und damit dem Milieu ihrer Eltern und Familien entwachsen sind. Didier Eribons »Rückkehr nach Reims«, Édouard Louis’ »Das Ende von Eddy« und die Bücher von Annie Ernaux lösten mit ihren Lebensbetrachtungen politische Debatten über die Frage aus, warum sich Linke und Arbeiter*innenklasse entfremdet haben. In Deutschland hat sich nun Christian Baron mit seinem biografischen Buch »Mann seiner Klasse« in diese Linie gestellt. Bei ihm spielt die Diskussion über angebliche oder tatsächliche Fehler der Linken eine zentrale Rolle – wobei die Grenze zwischen Kritik und Ressentiment gelegentlich verschwimmt, wenn sich Baron mit Feministinnen, Veganer*innen und gesellschaftlichen Minderheiten anlegt, als hätte er die Stichworte für Sahra Wagenknechts Polemik »Die Selbstgerechten« liefern wollen.
Einen völlig anderen Zugang wählt Peter Kern in seinem ebenfalls biografischen Buch »Dorfansicht mit Nazis«, das kürzlich im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen ist. Auch er erzählt einen gesellschaftlichen Aufstieg aus dem unteren Mittelstand eines Dorfes in der Pfalz, der ihn über das Studium bis zum Sekretär beim Vorstand der Industriegewerkschaft IG Metall und zum regelmäßigen Autor in den sozialistischen »Frankfurter Heften« brachte. Bei Kern handelt es sich nicht um eine Entfremdungs-, sondern um eine Emanzipationsgeschichte, die durch die gesellschaftliche Linke vorangetrieben wird. Insofern hat Kern auch keine Abrechnung mit der Linken geschrieben. Bei ihm wird vielmehr deutlich, wie der Kontakt mit Genoss*innen seinen Horizont erweitert hat. Sie waren es, die ihm geholfen haben, aus der pfälzischen Kleinstadt Rodalben auszubrechen, in dem die Kirchenglocken und der Beichtstuhl das Leben strukturierten. Mit dem Buch gelingt Kern zweierlei: die sehr dichte Beschreibung einer Kindheit und Jugend in den 1960er und frühen 1970er Jahren in der südwestdeutschen Provinz sowie eine Studie über die weithin vergessene jüdische Geschichte in dieser Region.
Linke Liebe zur US-Kultur
»Einmal im Jahr fiel das Läuten der Glocken aus, das war vor Ostern, wenn Jesus für unsere Sünden am Kreuz starb«, beschreibt Kern das Lebensgefühl seiner Kindheit. Die regelmäßige Beichte war ein Ritual, dem sich niemand entziehen konnte, der nicht zum Außenseiter abgestempelt werden wollte. »Vor Ostern mussten die Sünden noch raus. Das schwarze Gesangbuch wies vorne den Beichtspiegel auf. Ein Beicht-Spiegel, der hält einen den Spiegel vor. Dort las das Kind, woran es nicht gedacht hatte, bevor es samstagsnachmittag in den dunklen Beichtstuhl trat«.
Wie aus einem gehorsamen Kirchgänger, der brav der Beichte beiwohnte und später Messdiener wurde, ein linker Rebell wird, der immer öfter per Anhalter in die größere Stadt fährt, erzählt Kern im ersten Teil des Buches. Dabei beschreibt er die große Rolle der Kultur und vor allem der US-amerikanischen Musik für seine jugendliche Emanzipation. »Es war diese Liebe zur Kultur aus den USA, die mich wohl vor den dümmsten Antiamerikanismus bewahrt hat«, sinniert Kern rückblickend im Gespräch mit dem »nd«.
Junge Linke demonstrierten in der BRD gegen den Vietnamkrieg, aber wollten nicht wissen, was die eigenen Eltern in der NS-Zeit gemacht hatten.
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Mit dieser US-Kultur kam er durch Linke in Kontakt. Das ist durchaus kein Widerspruch zu seinem jugendlichen Engagement für zwei Mitglieder der Black Panther Party (BPP), die vor dem pfälzischen US-Stützpunkt Ramstein Flugblätter verteilen wollten, in denen sie die Soldaten zur aufriefen, zu desertieren, anstatt sich am Krieg in Vietnam zu beteiligen. Über die Folgen schrieb Kern: »Der sie kontrollierende deutsche Wachmann hatte als ein Rassist zu gelten, versuchte er doch, den beiden den Zündschüssel abzuziehen. Die Black Panther ließen ihren Wagen zurück und flüchteten. Mit deutschen Schäferhunden wurden sie aufgespürt, kamen nach Zweibrücken ins Gefängnis und Monate später vor Gericht.« Es ist gut, dass Kern hier an eine linke deutsch-amerikanische Kooperation erinnerte, die weitgehend vergessen ist: die Unterstützung von Kriegsgegner*innen aus den USA, die nicht in Vietnam töten oder selbst getötet werden wollten. »Der Junge durfte sich als Mitglied ihres Solidaritätskomitees sehen. Es galt, die Unschuld der Ramstein Two nachzuweisen«, erinnert sich Kern an sein damaliges politisches Engagement für die Deserteure Edgar Jackson and William Burrell.
Das pfälzische Landjudentum
In seinen Erinnerungen spart Kern nicht mit Selbstkritik. Er kann sich an Zeiten erinnern, als junge Linke in der BRD berechtigterweise gegen den Vietnamkrieg der USA demonstrierten, aber nicht wissen wollten, was die eigenen Eltern und Verwandten eigentlich in der NS-Zeit gemacht hatten. Hier schließt der zweite Teil des Buches an, der zu einer »autobiographisch gerahmten Studie« wird, »die in authentisch geschilderte Spuren über einen weitgehend vergessenen Personenkreis der nationalsozialistischen Gewaltpolitik informiert: das pfälzische Landjudentum«, schreibt der Sozialwissenschaftler Micha Brumlik im Klappentext. Dabei konnte Kern auf die Arbeit von Peter Conrad zurückgreifen, der seit Jahren die Geschichte der Juden in Rodalben erforscht.
Am Anfang stand für den Autor Kern jene Frage, die auch den politisch aktiven jungen Peter Kern umtrieb: War Tante Antoinette, an die er zu viele Kindheitserinnerungen hatte, etwa an der Verfolgung der Juden in Rodalben beteiligt? Der Verdacht entstand, weil in ihrem Haus in der Nazizeit der berüchtigte Gauleiter Josef Bürckel jüdische Familien eingepfercht hatte, bevor sie in die Vernichtungslager abtransportiert wurden. Bei Kerns Recherche stellte sich heraus, dass seine Tante damit nichts zu tun hatte und das Haus viel später kaufte.
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Aber bei Kern war das Interesse an der Geschichte der jüdischen Bevölkerung in der Region bis ins 19. Jahrhundert geweckt. So zeichnet er die Biografie von Julius Moses nach, eines einige Jahre in Rodalben praktizierenden Arztes, dessen Name in den Kalenderblättern einer Art Dorfchronik nicht erwähnt wird. Dabei hatte sich Julius Moses, der ein Freund von Theodor Herzl war, auf dem Gebiet der Kinderpsychologe einen Namen gemacht. Weil er noch rechtzeitig nach Tel Aviv ausreisen konnte, blieb er von der NS-Vernichtungspolitik verschont. Noch in hohem Alter schrieb Moses in seinen letzten Texten über sein Leben in Rodalben.
Auch an den Kaufmann Ludwig Samuel erinnert Kern in »Dorfansicht mit Nazis«. Er gehörte zu den Honorartoren des Dorfes, saß im Vorstand des Synagogenrats, war Mäzen des Krankenhauses und warnte frühzeitig vor dem Aufstieg der Nazis. Nachdem diese an der Macht waren, wurde Samuel von der Gestapo in Neustadt verhört und wie ein Verbrecher behandelt. 1939 gelang ihm und seiner Frau in letzter Minute die Flucht. 1946 besuchte er noch einmal Rodalben. »Sein Sohn Fritz spricht von der Verbitterung seines Vaters. Den macht man zum Ehrenbürger des Dorfs, aber sein Eigentum ist unwiderruflich den Herren Bernd und Knecht vermacht«: So beschreibt Kern, wie die Profiteure der Arisierung im Dorf auch 1945 den geraubten Besitz behielten. Ergreifend ist auch das Kapitel über Gustav Samuel, Ludwigs Bruder, der nach seiner Ausreise in die USA verarmt in einen Briefwechsel an die Nazi-Behörden vergeblich um die Auszahlung seines eingezogenen Sparguthabens bittet.
Der Nachbar, der Juden deportiert
Von hohem historischen Interesse ist auch ein Briefwechsel der NS-Täter, den Kern in seinem Buch erstmals öffentlich macht. Es geht um die jüdische Familie Metzger aus Rodalben, die nach der Arisierung ihres Eigentums bei Verwandten in der Nähe von Göppingen Zuflucht gefunden hatte. Der dortige NSDAP-Bürgermeister wollte sie wieder loswerden und geriet darüber in einen heftigen Streit mit seinem pfälzischen Amtsbruder, der sogar das Innenministerium von Württemberg und die Kreisverwaltung der NSDAP beschäftigte. »Die Partei wusste Rat. Sie veranlasste die Deportation der Familien Metzger-Baer von Süßen nach Riga«, schreibt Kern. Nur eine Tochter überlebte und konnte später nach Haifa ausreisen.
Mit Josef Bürckel wird ein Nazi der ersten Stunde aus Rodalben beschrieben, der Adolf Eichmann bei der Organisierung der Shoah unterstützte. Bürckel war auch einer der Organisatoren der Deportation von über 5000 Juden aus Baden und der Saarpfalz am 20. Oktober 1940 in die Vernichtungslager. In seinem Heimatdorf war der Massenmörder als leutselig bekannt. Noch vor wenigen Jahren gab es eine Auseinandersetzung um seine Grabstätte auf einen Neustädter Friedhof, die von der zuständigen Mainzer Behörde als »historisches Denkmal« eingestuft worden war.
Am 22. Oktober 2016, dem 76. Jahrestag der Judendeportationen aus Südwestdeutschland, wurde im Rahmen einer Gedenkveranstaltung der Name auf dem Bürckel-Grabmal mit einem weißen Tuch verhüllt und ein rotes Band mit den Namen der 58 aus Neustadt deportierten Juden darüber geschlungen. Den Opfern von Verfolgung und Terror in der Geschichte ihre Namen zurückgeben: Das ist auch ein wesentliches Anliegen von Peter Kern.
Peter Kern: Dorfansicht mit Nazis. Hentrich & Hentrich 2024, 280 S., br., 24,90 Euro.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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