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Unregierbares Thüringen?
Im Freistaat müssen sich die Christdemokraten in jedem Fall bis zur Schmerzgrenze bewegen
Es reicht nicht. Nach der Auszählung aller Stimmen, die bei der Thüringer Landtagswahl abgegeben worden sind, ist nun klar, dass die Koalitionsoption nicht existiert, auf die die Strategen der Thüringer CDU kurz vor der Wahl und auch am Wahlabend selbst noch gesetzt hatten: Nachdem die Union monatelang und absehbar unrealistisch von einer »Deutschland-Koalition« aus CDU, SPD und FDP geträumt hatte und diese Träumereien dann zugunsten einer Koalition aus CDU, BSW und SPD aufgeben musste, steht seit dem späten Sonntagabend fest, dass es auch für ein solches Bündnis keine parlamentarische Mehrheit im Landtag gibt. CDU, BSW und SPD kommen dort nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis nur auf 44 von 88 Sitzen. Die CDU steuert 23, das BSW 15 und die SPD 6 Mandate bei. Für eine Mehrheit bräuchte es aber mindestens 45 Sitze.
Dass das Wahlergebnis derzeit nur vorläufig ist, ist eine Formalie. Dass sich die Sitzverteilung in den nächsten Tagen nochmals verschieben wird, ist sehr unwahrscheinlich.
Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.
Wenn alle Parteien jenseits der AfD ihre Versprechen aus den vergangenen Wochen und Monaten und Jahren halten und kein wie auch immer geartetes Bündnis mit der rechtsextremen Partei eingehen, bleiben nur drei Optionen, um zu einer Regierungskoalition beziehungsweise zu einer neuen Landesregierung zu kommen. Diese Optionen bedeuten eigentlich alle, dass Thüringen nach dem aktuellen Stand der Dinge unregierbar ist, weil es für jede einzelne von ihnen eine Zusammenarbeit zwischen Linke und CDU braucht, was bekanntlich per CDU-Parteitagsbeschluss formal streng verboten ist.
Option eins ist eine ganz große Anti-AfD-Koalition, bei der CDU, BSW, SPD und Linke miteinander koalieren. Eines der zentralen Argumente, die dagegen seit dem Wahlabend von verschiedenen Seiten immer wieder vorgebracht werden, lautet, dass ein solcher Zusammenschluss die AfD noch weiter aufwerten und ihr Opfer-Gehabe noch verstärken würde.
Option zwei ist eine Dreier-Lösung, bei der CDU, BSW und Linke miteinander arbeiten, entweder als Mehrheitskoalition oder als CDU-BSW-Minderheitsregierung, die von der Linken geduldet wird. Die SPD wäre dabei neben der AfD die einzige echte Oppositionspartei. In der Vergangenheit gab es in Thüringer SPD-Kreisen Stimmen, die sich eine solche Konstellation mehr oder weniger gewünscht haben, damit sich die SPD nach Jahren des Niedergangs in Thüringen in der Opposition wieder erholen kann.
Option drei ist eine Drei-plus-Eins-Lösung: ein Bündnis aus CDU, BSW und SPD, das sich von der Linken tolerieren ließe. Das ist die Option, die derzeit am intensivsten diskutiert wird, was aber noch längst nicht heißt, dass sie wirklich realistisch ist. Immerhin wollten alle politischen Akteure nach der Wahl ein wie auch immer gestaltetes Minderheitenmodell unbedingt vermeiden. Ganz zu schweigen von den großen inneren Spannungen, die ein Bündnis aus CDU, BSW und SPD aushalten müsste, wobei es die auch dann gäbe, wenn dieses Bündnis über eine eigene Mehrheit verfügen würde.
Insbesondere in Süd- und Ostthüringen wäre vielen CDU-Mitgliedern eine Zusammenarbeit mit der AfD deutlich sympathischer als eine mit den Linken oder dem BSW.
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Das einzige, was irgendwie Hoffnung darauf macht, dass die Thüringer Unregierbarkeit sich im Laufe der nächsten Monate in eine Fast-Unregierbarkeit abschwächen lässt, ist die Tatsache, dass es zwischen der CDU und der Linken im Freistaat schon in den vergangenen fünf Jahren eine De-facto-Zusammenarbeit gegeben hat, auch wenn der CDU-Parteivorsitzende Mario Voigt das immer bestritten und stattdessen betont hat, die Union sei bisher in der Rolle der »konstruktiven Opposition« gewesen. Alle Landeshaushalte beispielsweise sind während der Zeit der rot-rot-grünen Minderheitsregierung gemeinsam mit der CDU durchs Parlament gebracht worden.
Dass es nun dennoch eine neue Qualität des Miteinanders wäre, wenn eine CDU-geführte Landesregierung sich im Parlament auf die Stimmen der Linken stützen müsste, bleibt unbestritten. Ob alle CDU-Männer und -Frauen eine solche Zusammenarbeit mitmachen würden, ist freilich völlig unklar. Ebenso wie unklar ist, was passieren würde, wenn Voigt die CDU an das BSW binden würde. Insbesondere in Süd- und Ostthüringen wäre vielen CDU-Mitgliedern eine Zusammenarbeit mit der AfD deutlich sympathischer als eine mit den Linken oder dem BSW. Weil Voigt das sehr genau weiß, betont er am Tag nach der Wahl, dass es mit der Bildung einer neuen Regierung lange dauern wird. Es ist offenkundig, dass auch er keinen Masterplan für die aktuelle Lage in der Schublade hat. »So etwas entscheidet man nicht über Nacht«, sagt er. Aus einer CDU-Perspektive hat die Partei im Freistaat gerade eigentlich nur schlechte Optionen.
Die Linken dagegen sind da deutlich schneller – und zeigen sich für eine Zusammenarbeit mit der Union durchaus offen. Ein bisschen aus staatspolitischer Verantwortung heraus. Ein bisschen bestimmt, um der CDU manches von dem heimzuzahlen, was die Union Rot-Rot-Grün in den vergangenen fünf Jahren angetan hat, als die CDU sich die direkte oder indirekte Zustimmung zu Gesetzesvorhaben von Linken, SPD und Grünen teuer abkaufen ließ; und dann auch noch mit der AfD abstimmte, wenn sie sich – wie bei der Grundsteuer – nicht mit Rot-Rot-Grün einigen konnte. Die auch persönlichen Verletzungen, die sich die verschiedenen Landespolitiker zuletzt beigebracht haben, werden in den nächsten Monaten durchaus noch eine Rolle spielen.
Der Thüringer Linke-Ko-Landesvorsitzende Christian Schaft jedenfalls sagte noch am Wahlabend, aus Sicht der Linken sei eine Tolerierung einer CDU-BSW-SPD-Koalition durch seine Partei nicht ausgeschlossen, sollte ein solches mögliches Bündnis keine parlamentarische Mehrheit haben – was sich ein paar Stunden nach Schafts Aussage zur Gewissheit verdichtet. »Wenn das so wäre, muss man wirklich alle Optionen auf den Tisch legen«, sagt er. »Wir wollen Stabilität.« Eine Voraussetzung dafür sei aber natürlich, dass die CDU ihren Parteitagsbeschluss überdenke, der ihr jede Zusammenarbeit mit den Linken verbietet.
Sollten Tolerierungsverhandlungen oder Ähnliches nötig werden, würde er und seine Partei jedenfalls »offen« in diese Gespräche gehen, sagte Schaft. Anders als für die CDU bedeutet für die Linke eine eventuelle Zusammenarbeit mit der Union jedenfalls keine Zerreißprobe. »Wir sind da deutlich entspannter, weil wir uns der Verantwortung unserer Partei für das Land bewusst sind.«
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