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Überlebenskampf in Dschenin
Taysir Nasrallah von der Autonomiebehörde über die Lage im Westjordanland
Herr Nasrallah, wie ist derzeit die Lage im Westjordanland?
Die israelische Armee greift aus verschiedenen Richtungen an, die Infrastruktur der Flüchtlingslager in Tulkarem und Tubas wurde beschädigt. Die Bewohner des Lagers von Dschenin erleben eine regelrechte Belagerung, 70 Prozent der Straßen sind beschädigt, die Wasser- und Stromversorgung wurde gekappt. Gleichzeitig vertreiben Siedler rund um Hebron und Nablus Palästinenser aus ihren Häusern. Es ist kein Zufall, dass beides zur gleichen Zeit geschieht.
Was sehen Sie als Grund für diese Eskalation?
Israels Premierminister und Finanzminister Bezalel Smotrich haben in letzter Zeit ganz offen die Flüchtlingslager zum Feindbild erklärt. Für uns sind die seit 1948 Vertriebenen der Kern der palästinensischen Identität. Israel will die Menschen daher vertreiben. Doch die Strategie ist noch umfangreicher. Sicherheitsminister Itamar Ben Gwir wirbt ganz offen für die Zerstörung der Al-Aqsa-Moschee und stattdessen für den Bau eines dritten jüdischen Tempels. Außenminister Israel Katz hat sogar von der Vertreibung der Palästinenser gesprochen, unter dem Vorwand von Terror.
Taysir Nasrallah ist ein palästinensischer Politiker, der im Flüchtlingslager Balata geboren wurde. Er ist Mitglied des Palästinensischen Nationalrats, des Palästinensischen Revolutionsrats, des Fatah-Beirats und ein ehemaliger palästinensischer Gefangener.
Was ist aus Ihrer Sicht das Ziel der Angriffe?
Was als das Vorgehen gegen Milizen verkauft wird, hat letztlich die Vertreibung möglichst vieler Palästinenser zum Ziel. Mit der Zerstörung in den Flüchtlingslagern will man das Leben dort unmöglich machen und die Menschen zur Flucht nach Jordanien zwingen. Doch wir werden in unserer Heimat bleiben. Die Gewalt der vergangenen Tage führt nur zu mehr Gegengewalt.
Israel behauptet, dass der Iran versucht hat, Kämpfer und Waffen in die Flüchtlingslager zu schmuggeln. Dies sei der Grund für die Armee-Kampagne.
Es ist doch kein Geheimnis, dass der Iran in der Region versucht, ein weitverzweigtes Netzwerk an Milizen auf seine Seite zu ziehen. Wir von der Autonomiebehörde sind doch der beste Schutz dagegen. Doch weil wir einige Familien von getöteten Kämpfern und in israelischen Gefängnissen einsitzende Palästinenser finanziell unterstützen, behält Israels Finanzminister die Hälfte der uns zustehenden Steuereinnahmen ein. Damit sind unsere Sicherheitskräfte weniger effektiv, öffentliche Bedienstete erhalten nur einen Teil ihres Lohnes. Unter diesen Umständen können wir nicht einmal wie von Israel gewünscht Sicherheitspartner sein. Ich kann daraus nur schließen, dass es daher längst um die Entmachtung der Autonomiebehörde geht. In Europa und Israel ignoriert man die Folgen einer zu erwartenden weiteren Eskalation im Westjordanland. Aus scheinbar lokalen Razzien wird gerade eine regionale Krise.
Warum geht denn Israel das Risiko eines Dreifrontenkrieges ein?
Das eigentliche Ziel der Koalitionspartner von Benjamin Netanjahu ist die vollständige Besiedlung des Westjordanlandes. Gaza ist für sie weit weniger wichtig. Im Westjordantal wurden gerade 28 kleinere palästinensische Siedlungen zerstört, das ist reine Machtpolitik.
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Wie ist die aktuelle Lage in dem immer noch umstellten Flüchtlingslager von Dschenin?
Es hat in den letzten Jahren immer wieder Angriffe auf die Lager gegeben. Auf dem Friedhof von Dschenin sehen Sie aber, dass diese Gewaltspirale immer wieder neue Formen des Widerstands entstehen lässt. Der jetzige Angriff auf Dschenin ist der umfangreichste seit zwei Jahrzehnten, es ist jetzt für uns ein Überlebenskampf. Die Nachbarschaftshilfe funktioniert weiterhin sehr gut. Wir werden die Straßen, Strom- und Wasserleitungen notdürftig reparieren, sobald die Kämpfe vorbei sind. Wir wissen aber auch, dass die Armee wiederkommen wird. Daher werden wir mit dem kompletten Wiederaufbau beginnen, sobald es eine langfristige Lösung gibt.
Wie könnte die internationale Gemeinschaft zu einer Lösung beitragen?
Wir haben es ehrlich gesagt aufgegeben, auf die internationalen Institutionen zu hoffen. Israels Partner blockieren selbst UN-Resolutionen oder setzen diese nicht um. Wir bleiben in unserem Land und lassen uns nicht vertreiben. Der 7. Oktober war schlimm für Israel, aber es war ein Tag. In Gaza und im Westjordanland erleben wir seitdem fast jeden Tag Katastrophen. Wir hier hatten nichts mit dem 7. Oktober zu tun und werden dennoch pauschal bestraft. Die internationale Gemeinschaft sollte zumindest verstehen, dass ein weiteres passives Zuschauen einen regionalen Konflikt schafft, an dem niemand ein Interesse haben kann.
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